Mehr als eine Millionen Menschen aus der Ukraine, dazu Hunderttausende aus Syrien, Afghanistan, der Türkei oder Venezuela: Nach den hohen Zahlen von Schutzsuchenden von 2015 befindet sich Deutschland, so stellen es manche politische Akteure dar, erneut in einer massiven "Migrationskrise". Nicht nur konservative Politiker drängen darauf, die Anzahl der schutzsuchenden Menschen zu verringern. Sogar der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck erklärt kürzlich in einem Interview, "dass es vielleicht auch moralisch überhaupt nicht verwerflich ist und politisch sogar geboten, eine Begrenzungsstrategie zu fahren."
Ist die Bundesrepublik am Limit? Drohen uns wieder umgebaute Baumärkte und Sporthallen, die als Erstaufnahmeeinrichtungen dienen müssen, wie vor acht Jahren? Oder ist die Diskussion um Asylsuchende nur Teil des Wahlkampfes mit Blick auf die Landtagswahlen in Bayern in diesem und in den ostdeutschen Bundesländern im nächsten Jahr?
Ein Blick in die Zahlen
2022 wurden in der Europäischen Union insgesamt 962.160 Asylanträge gestellt, 243.835 und somit knapp 25 Prozent davon in Deutschland. Die Bundesrepublik hat somit in Europa die höchste Zahl an Schutzsuchenden aufgenommen. Auf dem zweiten Platz landete Frankreich (156.455 Anträge / 16 Prozent), auf dem dritten Platz Spanien (117.945 Anträge / 12 Prozent).
Im Vergleich zu 2021 (632.405) stieg die Zahl der Asylanträge in der EU um 52 Prozent. Nicht in dieser Statistik aufgeführt sind die Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine: Seit Februar 2022 sind Schätzungen zufolge 4,8 Millionen Ukrainer in die Europäische Union eingereist. Derzeit leben 1.086.357 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland (Stand 3. September 2023). Die meisten von ihnen kamen in den ersten Monaten nach der russischen Invasion. Warum aber scheint das Migrationssystem in Deutschland jetzt – nach knapp anderthalb Jahren "plötzlich" am Anschlag zu sein?

Anmerkung: Die Zahlen des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die des Europäischen Rates unterscheiden sich leicht. Dies liegt an den unterschiedlichen Erhebungsverfahren.
Wie der "Mediendienst Migration", ein Projekt des "Rat für Migration e.V", Zusammenschluss von Migrationsforscherinnen und -forschern, erläutert, ist dies darauf zurückzuführen, dass die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer in der ersten Phase nicht direkt ins Aufnahmesystem gefallen sind. Seit 1. Juni 2022 stehen ukrainischen Staatsbürgern Leistungen nach Sozialgesetzbuch zu – genauso wie anerkannten Flüchtlingen. Somit haben sie einen Anspruch auf Auszahlung des Bürgergeldes oder Sozialhilfe, dürfen in Deutschland arbeiten, bekommen eine Krankenkassenkarte und haben Anspruch auf eine Wohnung. Und insbesondere Letzteres belastet nun das Aufnahmesystem.
Geflüchtete aus der Ukraine: Was sich geändert hat
Die Problematik wird heute, anderthalb Jahre nach dem Angriff auf die Ukraine, zunehmend deutlich. Die meisten Kriegsflüchtlinge konnten in der Anfangsphase bei Familie, Freunden oder in privat angemieteten Wohnungen unterkommen. In den meisten Fällen haben sie auch dort ihren Titel zum vorübergehenden Schutz beantragt und waren demnach in der jeweiligen Stadt registriert. Als sie aus privaten oder finanziellen Gründen aus ihrer ersten Unterkunft ausgezogen sind, fielen sie direkt ins kommunale Aufnahmesystem.
Anders als bei anderen Schutzsuchenden, die gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland auf die Bundesländer verteilt werden, müssen ukrainische Staatsbürger in der Stadt untergebracht werden, die sie selbst wählen konnten. Besonders deutlich wird dieses Problem beim Blick auf die Wohnungsknappheit in vielen Städten und Kommunen. Die Ukrainer, die zunächst privat untergekommen sind und nun ihren Anspruch auf Wohnraum geltend machen, werden zu einer zusätzlichen "Belastung" für das Aufnahmesystem, weil sie nicht in andere Städte verlegt werden können, in denen noch Kapazitäten vorhanden sind. So entstanden in den vergangenen Monaten örtliche "Belegungsengpässe". Ukrainer, denen keine Wohnung gestellt werden kann, müssen in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden. Insbesondere Großstädte, in denen wenig bezahlbarer Wohnraum vorhanden ist, aber auch ländliche Gebiete, in denen es wenige Mietwohnungen gibt, sind davon betroffen.
Bundesländer wie Bayern und das Saarland sind laut eigenen Angaben bereits seit längerem an der Belastungsgrenze: Dort sind über 90 Prozent der Kapazitäten in Erstaufnahmeeinrichtungen belegt. Auch Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt melden, dass ihre Kapazitäten "weitgehend ausgereizt" sind.
103 Millionen Geflüchtete weltweit – diese Länder nehmen die meisten auf

Ein Großteil der Menschen kommt aus dem Nachbarland Myanmar, wo die muslimische Minderheit der Rohingya seit Jahrzehnten verfolgt wird, besonders seit einer Offensive der myanmarischen Armee im August 2018. Bangladesch erkennt die Genfer Flüchtlingskonvention zwar nicht an, nimmt aber seit Jahrzehnten eine hohe Zahl an Geflüchteten auf. Diese haben allerdings keinen legalen Aufenthaltsstatus, was die Sicherheitslage für sie schwieriger macht. Bangladesch hat etwa 171 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, Geflüchtete stellen einen Anteil von rund 0,55 Prozent.
Andere Länder wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind zu Dreiviertel ausgelastet, in Niedersachsen seien 65 Prozent der Plätze belegt. Hessen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen waren laut "Mediendienst Integration" im Februar 2023 etwa zur Hälfte ausgelastet.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Städten und Kommunen. Besonders Großstädte und ländliche Kommunen mit wenigen kommunalen Wohnungen sind am Anschlag. In anderen Gebieten ist noch Wohnraum vorhanden.
Zwar sind mittlerweile fast 80 Prozent der Ukraine-Geflüchteten in privaten Häusern oder Wohnungen und nur knapp acht Prozent in "sonstigen Unterkünften" wie Sammelzentren untergebracht, damit nehmen sie aber selbstredend Wohnraum oder Kapazitäten ein, der ansonsten auf andere Asylsuchende hätte verteilt werden können.
Migrationskrise oder Verteilungskrise?
Fest steht: Deutschland erlebt derzeit einen großen Zuzug von Schutzsuchenden. Knapp 185.000 Menschen stellten zwischen Januar und Juli 2023 einen Asylantrag. Hinzu kommen die Ukrainerinnen und Ukrainer, von denen nicht abzusehen ist, ob und wann sie Antrag zum Beispiel auf Wohnraum stellen.
Ein großes Problem stellt in diesem Zusammenhang die Verteilung der Asylsuchenden dar. Sie werden nach dem sogenannten "Königsteiner Schlüssel" auf die Bundesländer verteilt. Dabei wird allerdings kaum darauf geachtet, ob die Länder, etwa durch die Aufnahme und Unterbringung von Ukrainerinnen und Ukrainern bereits ausgelastet sind. So entstehen in einigen Städten und Kommunen Überlastungen, während in anderen Gebieten noch Kapazitäten verfügbar wären.
Die Idee, den Zuzug von Asylbewerbern schlicht zu verringern, klingt auf den ersten Blick naheliegend. Langfristig würde dies grundsätzliche Probleme, wie den Mangel an bezahlbarem Wohnraum oder den Fachkräftemangel nicht lösen. Zudem hat Deutschland im vergangenen Jahr zwar nach absoluten Zahlen die meisten Asylsuchenden in der EU aufgenommen, im Verhältnis zur Einwohnerzahl liegt die Bundesrepublik aber nur auf Platz 12. Kurzfristig wirkt es sinnvoller, die Verteilung der Asylsuchenden innerhalb Deutschlands gerechter zu verteilen.
Quellen: Europarat, Eurostat, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Mediendienst Integration