Herr Graumann, Sie wünschen sich "mehr Empathie" in der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung? Was meinen Sie damit?
Ich wünsche mir, dass die Menschen verstehen, dass diese Ausbrüche von Antisemitismus die jüdische Gemeinschaft emotional sehr tief getroffen haben. Viele von uns kommen aus Holocaust-Familien. Auch ich selbst. Wir hatten niemals Großeltern, weil sie vergast worden sind. Und wenn wir dann auf deutschen Straßen hören "Juden ins Gas", rührt das einen ganz besonderen Nerv.
Und Sie glauben, das könnten Nichtjuden nicht nachvollziehen?
Nach den meisten dieser Demonstrationen hat die Polizei "Keine besonderen Vorkommnisse" vermeldet. Das meine ich mit Empathie: Warum müssen wir selbst auf solch infame Drohungen hinweisen? Warum bemerkt das niemand sonst?
Sie sagten, deutsche Juden würden die schlimmsten Zeiten seit der Nazi-Ära erleben. Der israelische Botschafter hat die aktuelle Situation mit 1938 verglichen, dem Jahr der "Reichspogromnacht". Das ist doch historisch nicht zu halten.
Ich habe doch nie von schlimmsten Zeiten gesprochen, denn natürlich kann man das auf gar keinen Fall vergleichen! Damals hat das politische System uns verfolgt, heute ist es das politische System im Land, das uns unterstützt und beschützt. Aber: Die antisemitischen Sprüche, die es zu hören gab, waren wirklich die schlimmsten seit Jahrzehnten. Das müssen wir thematisieren. Ich bin noch nie so häufig von jüdischen Menschen hier gefragt worden, ob Judentum hier überhaupt noch eine Zukunft hat. Von Menschen jeden Alters, von jungen Familien. In diesem Sommer hat es einen emotionalen Bruch gegeben. Das braucht Zeit zum Heilen.

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Der Zentralrat hat zu einer Kundgebung am Brandenburger Tor am Sonntag unter dem Titel "Nie wieder Judenhass" aufgerufen. Bundespräsident Gauck und Kanzlerin Merkel werden da sein. Was ist mit Vertretern der Muslime?
Wir haben sie ganz herzlich dazu eingeladen, und es gibt auch schon Zusagen, worüber wir uns ganz besonders freuen.
Viele der antisemitischen Ausschreitungen im Sommer gingen auf das Konto von Muslimen. Was muss sich ändern?
Leider war das so. Aber man darf nicht generalisieren und keine Pauschalurteile abgeben. Die allermeisten Muslime denken bestimmt ganz anders. Wir suchen weiter ihre Freundschaft. Umso wichtiger ist es, dass die muslimischen Gemeinden mehr tun, um den Judenhass in ihren Reihen stärker und offensiver zu bekämpfen als bisher.
Wie arbeiten der Zentralrat und die Muslime in Deutschland bisher zusammen?
Wir sind von Anfang an auf die muslimischen Verbände zugegangen. Wir haben sie in unsere Spitzengremien und zu vielen weiteren wichtigen Veranstaltungen, wie unserem Gemeindetag, eingeladen. Und wir haben uns immer für sie eingesetzt. Als das Sarrazin-Buch beispielsweise herauskam, haben wir als Erste gesagt, dass niemand so respektlos behandelt werden darf. Nach Anschlägen auf Moscheen haben wir immer aufgeschrien. Wir setzen uns immer ein für Menschen, die diskriminiert werden in diesem Land. Und das sind häufig Muslime. Wir sind mit die Ersten, die das verurteilen. Das gehört zum politischen Markenkern der Arbeit des Zentralrats der Juden.
Sie haben Christian Wulffs Rede zum Islam damals begrüßt. Sie haben selbst gesagt, dass der Islam ein wichtiger Teil von Deutschland sei. Haben Sie sich geirrt?
Ich habe mich nicht geirrt! Aber gerade weil wir das denken, müssen wir auch einmal Kritik üben dürfen. Es ist doch im Interesse der Muslime selbst, dass extremistische Islamisten nicht die Religion missbrauchen, um Hass zu schüren. Aber ich möchte das Thema um den Antisemitismus nicht nur auf die muslimische Gemeinschaft konzentrieren. Denn die allermeisten antisemitischen Straftaten gehen doch nach wie vor von Neonazis aus!
Studien zufolge haben 20 Prozent der Deutschen antisemitische Vorurteile. Nun scheinen sich Linksradikale, Islamisten und Rechtsradikale gegenseitig in ihrem Judenhass zu befeuern. Hat das eine neue Qualität?
Das mag sich gelegentlich befeuern. Mit diesen 20 Prozent kann ich mich aber niemals abfinden. 20 Prozent von 80 Millionen, das wären ja 16 Millionen Menschen! Ich will nicht glauben, dass es in diesem Land so viele Antisemiten gibt.
Glauben Sie, dass jüdische Gemeinden sich mehr öffnen müssen?
Sie sind offen. Es gibt in allen jüdischen Gemeinden Deutschlands Kulturtage. Die allermeisten Besucher sind keine Juden. Was aber vielen Menschen nicht klar ist: Es gibt überhaupt nur 100.000 Mitglieder in jüdischen Gemeinden in diesem Land. Wenn 100.000 auf 80 Millionen treffen sollen, ist das schon numerisch schwierig. Wir führen ein offenes Leben, soweit die Sicherheit es zulässt. Aber wir müssen unsere Gottesdienste und Schulen immer noch durch die Polizei und Sicherheitsvorkehrungen beschützen. Das ist die traurige Realität.
Haben Sie selbst eigentlich Angst?
Ich habe gar keine Angst um mich. Aber die Sorgen meiner Mitmenschen machen mir Sorgen. Wir wollen hier doch eine neue, moderne, positive Perspektive jüdischen Lebens bieten. Das war mein Ansatz. Im Augenblick ist es schwer, das Positive zu sehen. Aber in der jüdischen Geschichte gab es immer Schläge und Rückschläge, leider. Deshalb müssen wir unseren Feinden zeigen, dass wir nicht resignieren. Und uns selbst auch. Wir werden daher weiterhin unsere positive jüdische Zukunft hierzulande selbstbewusst gestalten.
Warum sind Sie nie zu ihrem eigentlichen Vornamen David zurückgekehrt?
Ach wissen Sie, weil ich mich daran gewöhnt habe. Und aus Respekt. Es war doch der Wunsch meiner Eltern, nach den Erlebnissen der Shoah, mich offiziell Dieter zu nennen. Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben, meine Mutter lebt noch. Jetzt noch etwas zu ändern, wäre dann doch merkwürdig. Obwohl ich ja finde, dass David der schönste jüdische Name ist. Und ich habe dafür einen der am wenigsten schönen bekommen. Kein guter Tausch! (lacht)