Antisemitische Übergriffe in Europa Judenhass ist Trend

Im Netz wütet der Hass auf Juden im Allgemeinen und Israel im Besonderen. In Paris und auch in Berlin werden Menschen auf offener Straße angegriffen. Alles klar, Europa?

Ich könnte nur heulen, weil meine Mama mit über 60 Jahren nun Angst hat, hier zu leben. Und weil sie in Kreuzberg lebt, sorge ich mich um sie", sagt Amira, und dass ihr Name geändert werden muss, zeigt, wie weit die Situation eskaliert ist. Proteste gegen Israels Gaza-Offensive haben in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzwerken einen Judenhass entfesselt, von dem man gehofft hat, dass er nicht mehr existiert. Viele Demonstranten und Israel-Kritiker vergessen einfach, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Entscheidungen einer Regierung und Menschen jüdischen Glaubens. Oder es ist ihnen egal. Viele wirken sogar geradezu befreit in ihren Tiraden.

Was hat eine jüdische Familie in Berlin mit den Entscheidungen der Regierung Netanjahu zu tun?

Die Bilder aus Paris machen Angst. Erst brennt die Israelflagge, dann ganze Straßenkreuzungen. Jüdische Menschen müssen in Synagogen und auf der Straße um ihr Leben fürchten. In Berlin gab es vor wenigen Tagen blanken Judenhass zu sehen, als Pro-Palästina-Aktivisten zusammen mit Rechtsradikalen demonstrierten und antisemitische Parolen skandierten, die hier nicht wiederholt werden sollen, aber in diesem Video zu hören sind. Aus Verbalattacken wurde schließlich der tätliche Angriff gegen ein israelisches Ehepaar - Unter den Linden sind sie nur knapp dem antisemitischen Mob entkommen.

Antisemitische Ausfälle in Europa

Deutschland: Bei mehreren Anti-Israel-Protesten waren am vergangenen Wochenende antisemitische Parolen zu hören: In Essen etwa brüllten Demonstranten "Adolf Hitler, Adolf Hitler", in Berlin wurden Juden beschimpft, zudem griffen dort Demonstranten ein israelisches Touristenpaar an. In Essen nahm die Polizei 14 Männer fest, die offenbar einen Anschlag auf die Alte Synagoge geplant hatten.

In

Frankreich

sind die antisemitischen Exzesse besonders heftig. Nachdem pro-palästinensische Proteste außer Kontrolle gerieten, hat die Regierung sie verboten. Am vergangenen Wochenende wurden im jüdisch geprägten Pariser Vorort Sarcelles jüdische Geschäfte geplündert, Autos und Mülltonnen angezündet und die Synagoge wurde angegriffen. Auch in Paris war eine Synagoge stundenlang belagert worden, bis Polizisten die Eingeschlossenen schützen.


Niederlande:

Auf einer Demonstration in Den Haag trugen mehrere Demonstranten Schilder, die die israelische Fahne neben Hakenkreuzen zeigten. In Amersfoort sollen Unbekannte das Haus eines Rabbiners mit Steinen beworfen haben.


Belgien:

Auf einer Kundgebung in Antwerpen brüllte ein Sprecher der Demonstranten durch sein Megafon: "Schlachtet die Juden!".


Österreich:

Nachdem der österreichische Außenminister Sebastian Kurz auf seiner Facebook-Seite einen Friedensappell zum Nahost-Konflikt veröffentlicht hatte, posteten Dutzende User darunter antisemitische Kommentare . Kurz hat die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.


Großbritannien:

Auf einem Protestzug in London trugen Demonstranten Schilder, die ein Hakenkreuz zeigten, darunter der Schriftzug: "Gut gemacht, Israel. Hitler wäre stolz".


Türkei:

Premierminister Recep Tayyip Erdogan nannte Israel "schlimmer als Hitler". Die Schlagersängerin Yildiz Tilbe schrieb auf Twitter: "So Gott will, werden es wieder Muslime sein, die das Ende dieser Juden herbeiführen…Gott segne Hitler." Bei gewalttätigen Protesten in Istanbul versuchten Demonstranten, das israelische Konsulat zu stürmen. Auf die Wand des Gebäudes schrieb jemand: "Stirb aus, Mörder Jude." Israel hat den Großteil seines diplomatischen Personals aus der Türkei abgezogen.


Kanada:

In Calgary attackierten pro-palästinensische Demonstranten eine kleine Gruppe jüdischer Gegendemonstranten. Ein Mann mit einer israelischen Fahne wurde geschlagen und zu Boden gerissen.

In den

sozialen Netzwerken

finden sich zahlreiche antisemitische Beschimpfungen vor allem in pro-palästinensischen Gruppen. Juden und Israelis werden mit Tieren verglichen. Viele Absender tragen türkische oder arabische Namen. Aber längst nicht alle: Auch unter deutsch klingenden Namen wird gepöbelt - etwa "Scheiss Juden". Ähnliche Verunglimpfungen finden sich auf Schweizer Facebook-Seiten.

Mareike Enghusen

Immer wieder, von einer Sekunde auf die andere, schlägt vermeintliche Israelkritik in Antisemitismus um. Und die selbsternannten Konfliktexperten tun rein gar nichts, um das "Missverständnis" aufzuklären. Dahinter vermuten nicht mehr nur langjährige Beobachter der Kritiker-Szene wie Henryk M. Broder Methode.

Warum lassen Menschen, die betonen, dass es ihnen ausschließlich um eine Kritik an Israels Politik gehe, es immer wieder zu, dass ihre Botschaften von begeisterten Antisemiten gekidnappt werden? Warum wird hingenommen, dass Juden auch in Europa wieder Angst haben müssen? Was hat eine jüdische Familie in Paris, London oder Berlin mit den Entscheidungen der Regierung Netanjahu zu tun?

"Die Linke wird den Juden nie verzeihen..."

Hier schon mal zwei Antworten: "Die Linke, falls es so etwas heute noch gibt, oder sagen wir besser, die gut lebenden systemkritischen Bürgerinnen und Bürger, werden den Juden nie verzeihen, dass sie keine Opfer mehr sein wollen", schreibt Sibylle Berg auf "Spiegel Online". (Den ganzen Text lesen Sie hier).

Die Antwort für eine jüngere Generation der Judenhasser, auch die mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund, lieferte vergangene Woche Marcus Staiger. Staiger ist ein Berliner Rap-Produzent der ersten Stunde, in dessen Royal Bunker Künstler wie Kool Savas und Sido ihre ersten Schritte gemacht haben. Nach der Karriere als Labelchef gründete er die Plattform rap.de, mittlerweile schreibt er unter anderem für "Vice".

Staiger hat vergangene Woche auf Tumblr einen Text veröffentlicht, für den er heftigst angefeindet wird. Dabei sind es Worte, die in der Kakophonie aus Hass und Zynismus tatsächlich Platz für Hoffnung lassen. Und das ist in der augenblicklichen Situation viel wert.

"Was ich zum Nahost Konflikt sagen möchte…"

"Ich möchte die israelische Regierung für das Bombardement des Gazastreifens kritisieren, ohne dass ich mich sofort in Gesellschaft von fanatischen Judenhassern und professionellen Antisemiten befinden muss", schreibt Staiger. "Ich möchte die Irren von der Hamas für ihre Raketen verurteilen, ohne dass mir unterstellt wird, ich hätte kein Herz für die Unterdrückten. (...), ich möchte, dass ihr aufhört zu behaupten, dass keiner was zur Unrechtspolitik von Israel sagen darf, weil die Juden ja ohnehin alles machen dürften - das stimmt nicht. Alle reden darüber, und meine Timeline ist voll mit Kommentaren zum Gazastreifen, (...), ich möchte, dass ihr aufhört, euren beschissenen Antisemitismus hinter eurem schlecht getarnten Antizionismus zu verstecken. (und kommt mir jetzt nicht mit dieser Spitzfindigkeit, dass auch Araber Semiten sind blablabla. Ihr wisst genau, was ich meine)". "Ich möchte, dass ihr ein für allemal aufhört, die beschissene Politik einer einzelnen Regierung immer im Zusammenhang mit irgendwelchen angeblichen Welteroberungsplänen einer Religionsgemeinschaft zu vermengen, (...), ich möchte, dass diese Region, mit ihren kulturellen und zivilisatorischen Schätzen, endlich einmal ihr volles Potenzial ausschöpfen kann, ohne ständig in dieser permanenten Selbstzerfleischung zu erstarren."

Und jetzt Sie.