Die Diagnose ist laut Rudolf Henke, Vorsitzendem des Ausschusses Gesundheitsförderung der Bundesärztekammer, eine alte Binsenweisheit: "Wenn du arm bist, musst du früher sterben." Dass sich daran nicht viel geändert hat, zeigt eine auf dem Ärztetag in Berlin diskutierte Untersuchung: Arme haben eine bis zu sieben Jahre kürzere Lebenserwartung als Wohlhabende und ein mindestens doppelt so großes Risiko, ernsthaft krank zu werden.
Benachteiligung schon im Mutterleib
Selbst in der reichen Schweiz, so stellte der Düsseldorfer Medizinsoziologe Johannes Siegrist zu seiner eigenen Überraschung fest, sterben einfache Arbeiter und Angestellte 4,4 Jahre früher als Männer in Führungspositionen. In Finnland sind es sieben Jahre, in Frankreich und Großbritannien nicht viel weniger, wie das europäische Forschungsprogramm unter Siegrists Leitung ergab. Besonders beunruhigend findet er, dass sich diese Schere in den vergangenen 15 Jahren weiter geöffnet hat.
Generell gilt: Je schlechter die soziale Lage, umso niedriger die Lebenserwartung und umso höher das Krankheitsrisiko. Der Keim dazu wird schon im Mutterleib gelegt. Bei Eltern aus niedrigen sozialen Schichten treten in der Schwangerschaft mehr Stoffwechselstörungen auf, die Kinder kommen mit Untergewicht zur Welt und werden im Schulalter zu dick. Benachteiligte Jugendliche neigen eher als reichere Altersgenossen zu Fehlernährung, Rauchen und Alkoholkonsum. Im mittleren Erwachsenenalter zeigt sich, dass der Herzinfarkt bei weitem keine Managerkrankheit mehr ist: Herzinfarkt und Depressionen kommen in den unteren Schichten häufiger vor als bei Wohlsituierten.
Risikofaktor: Angst um den Job
So bekommen Beschäftigte, die sich bei der Arbeit voll verausgaben und trotzdem zu wenig Geld, Anerkennung, Aufstiegschancen und vor allem Arbeitsplatzsicherheit haben, doppelt so häufig Herzinfarkte oder Depressionen. Besorgt berichteten Ärzte auf dem Kongress, dass viele Patienten sich aus Angst um ihren Job vehement dagegen wehrten, krankgeschrieben zu werden.
Für ein erhöhtes Krankheitsrisiko sorgt auch eine ungünstige Wohnlage. Dabei spielt Siegrist zufolge nicht nur die Umweltbelastung in schlechten Wohngegenden wie Feinstaub oder Verkehrslärm eine Rolle, sondern auch ein Klima sozialer Spannungen in der Nachbarschaft.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Politik soll sich um Unversicherte kümmern
Angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen und immer mehr Menschen an der Armutsgrenze warnte denn der 108. Ärztetag auch nachdrücklich vor "gesundheitlich katastrophalen Folgen" der Massenarbeitslosigkeit und forderte, der Beschäftigung Vorrang zu geben. Den Ärmsten der Armen, Obdachlosen und Heimpatienten, sollten Praxisgebühr und Zuzahlungen erlassen werden. Sie regten ein Netzwerk aus Allgemeinmedizinern, Kinderärzten und Psychiatern an, die sich mit Sozialarbeitern um die Menschen auf der Schattenseite des Lebens kümmern sollten.
Und das werden immer mehr: Nach Schätzungen sind derzeit schon 300.000 Menschen ohne jede Krankenversicherung; vor zwei Jahren waren es noch 188.000. Darunter sind gescheiterte Selbstständige, die keine Kasse mehr aufnehmen will, zunehmend aber auch Arbeitslose, die mit der Hartz-IV-Reform zu Jahresbeginn ihren Anspruch auf Unterstützung und damit auch auf Versicherungsschutz verloren haben. Sie müssten sich nun selbst um eine Versicherung kümmern, viele schaffen das aber nicht.
Finanzieller Ruin durch Krankenhausaufenthalt
"Schon ein einziger Krankenhausaufenthalt kann für den Betroffenen den finanziellen Ruin bedeuten", warnten die Delegierten des Ärztetags. Sie appellierten an die Politik dafür zu sorgen, dass gerade die Bedürftigen ausreichend krankenversichert seien. Eine rechtliche und finanzielle Regelung möchten sie auch für die Behandlung von Kranken sehen, die illegal in Deutschland leben. So sollen die Krankenhäuser nicht verpflichtet sein, Menschen ohne Papiere den Ausländerbehörden zu melden, weil die Illegalen oft aus Angst vor Abschiebung eine lebensnotwendige Klinikbehandlung ablehnten.
"Wir können als Ärzte nicht mit dem Rezeptblock die Globalisierung rückgängig machen und Deutschland in eine Insel der Glückseligen verwandeln", sagt Henke. "Hier ist die Politik gefordert."