Wahlkampf-Vorfälle Die Gewalt gegen die CDU wächst – der Bundeskanzler schweigt

Auf ein Wahlplakat mit dem Gesicht von Friedrich Merz hat jemand das Wort Nazi geschmiert
Plötzlich Staatsfeind? Vielerorts werden CDU-Plakate beschmiert, vor allem von linken Aktivisten.
© IMAGO/Udo Herrmann/ / Imago Images
In Berlin werden zwei junge CDU-Politiker verprügelt, in anderen Städten gibt es Attacken auf Büros der Partei. Generalsekretär Linnemann appelliert an den Bundeskanzler.

Der Winterfeldtkiez in Berlin-Schöneberg ist ein gutbürgerliches Stadtviertel. Am Dienstagabend, gegen halb sieben, laufen die beiden CDU-Nachwuchspolitiker Alex Gerasimenko und Jan Heuer von Mietshaus zu Mietshaus, stecken Wahlkampfflyer in Briefkästen. In einem Haus stürmt plötzlich ein Mann die Treppen herunter, beschimpft die beiden jungen Männer wüst: "Verpisst Euch!", ruft der Mann. Und: "Ihr Wichser!" So erinnert sich Gerasimenko am Tag danach.

Dann geht er auf die beiden zu, schubst sie weg, versucht, sie aus dem Haus zu drängen. Der Mann hebt Heuer plötzlich an den Schultern hoch, schubst ihn weg. Heuer fällt, sein Handy zerbricht beim Aufprall. Der Mann brüllt die beiden an, sie fliehen aus dem Haus. Ihre Flyer bleiben im Hof liegen, auch das kaputte Handy lassen sie dort zurück. Sie trauen sich erst wieder in das Haus, als die Polizei eintrifft. Beide erstatten noch vor Ort Anzeige. 

Attacken gegen die CDU haben deutlich zugenommen

Gerasimenko, der auch Vorsitzender der Jungen Union in dem Stadtteil ist, sagt: "Man bekommt schon Angst." Pöbeleien sei man längst gewohnt, aber solche Attacken hätten eine neue Qualität. "Es häuft sich und es radikalisiert sich", sagt der 30-Jährige. Er kommt mit einem Schreck davon, sein Kumpel mit Blutergüssen.

Mittlerweile haben unsere Ehrenamtlichen Angst, an den Infostand zu gehen

Der Angriff auf die beiden jungen Männer ist nur eine von derzeit vielen Attacken und Bedrohungen gegen Politiker, Geschäftsstellen und Mitarbeiter der CDU. Die Stimmung hat sich noch einmal stark aufgeheizt, seit die CDU im Bundestag in der vergangenen Woche notfalls auch mit Stimmen der AfD härtere Asylregeln durchsetzen wollte. Seither gibt es einerseits friedliche Demonstrationen, aber zunehmend auch Hass und Gewalt gegen die Partei. 

Eine Mitarbeiterin eines CDU-Abgeordneten hat eine Morddrohung erhalten

Der örtliche Abgeordnete und Spitzenkandidat der Berliner CDU, Jan-Marco Luczak, sagt dem stern nach der Attacke: "Wer 'Ganz Berlin hasst die CDU' an die Siegessäule projiziert, trägt für solche Angriffe Mitverantwortung." Mit einem "Aufstand der Anständigen" habe das nichts mehr zu tun, kritisierte Luczak. "Mittlerweile haben unsere Ehrenamtlichen Angst, an den Infostand zu gehen."

Vor einem Hauseingang liegen Flyer vertreut.
Der Ort der Attacke: Auf dem Boden liegen noch die Flyer der beiden Nachwuchspolitiker.
© privat

Aus der Parteizentrale der CDU heißt es, es würden nahezu täglich Attacken gemeldet. Schon Ende vergangener Woche hatte das Konrad-Adenauer-Haus eine Liste mit Angriffen und Beschmierungen von Geschäftsstellen der CDU zusammengestellt. Sie liegt dem stern vor. Zu Vorfällen kam es allein zwischen Mittwoch und Freitag vergangener Woche etwa in Berlin, Hamburg, Dortmund, Bochum, Freiburg, Recklinghausen, Lüneburg, Emden, Höxter, Mainz und Trier. Eine Mitarbeiterin des CDU-Bundestagsabgeordneten Johannes Steiniger hat eine Morddrohung erhalten.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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CDU-Genersekretär Linnemann fordert Olaf Scholz zur Distanzierung auf

In der CDU in Hamburg ist man deshalb alarmiert. Dort findet nur eine Woche nach der Bundestagswahl auch die Bürgerschaftswahl statt. Am Wochenende haben einige Kreisverbände ihre Infostände wegen Sicherheitsbedenken abgesagt, besonders in den Stadtteilen Sankt Georg, Altona und im Schanzenviertel. Also dort, wo die linke Szene stark ist. Seit dieser Woche werden nun alle Wahlkampfstände der CDU in Hamburg von der Polizei bewacht, auch Spitzenkandidat Dennis Thering wird bei öffentlichen Terminen von der Polizei begleitet.

Ich appelliere vor allem an die SPD-Spitze und an Olaf Scholz, sich in aller Klarheit von dieser Gewalt zu distanzieren, um sie nicht weiter anzuheizen

In einem Schreiben an die Mitglieder, das dem stern vorliegt, schreibt der Hamburger Landesverband: "Uns wurde ein Verbindungsbeamter der Polizei zur Seite gestellt, den wir kontaktieren können, sobald es zu Anfeindungen am Infostand kommen sollte." Weiter heißt es darin: "Bleibt bitte achtsam und lasst uns gemeinsam für einen sicheren Wahlkampf sorgen." Dazu verschickt der Landesverband ein Schreiben des Landeskriminalamtes mit Tipps zum Verhalten im Notfall.

Die Stimmung bei den Wahlkämpfern: Jetzt erst recht!

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte dem stern zu den Vorfällen: "Die linke Gewaltspirale dreht sich weiter: In Berlin wurden jetzt zwei Wahlkampfhelfer der Jungen Union tätlich angegriffen." Er bezeichnete die Angriffe der letzten Tage als kriminell. Mit Protest habe das nichts zu tun, weshalb man mit allen juristischen Mitteln dagegen vorgehe. "Ich appelliere vor allem an die SPD-Spitze und an Olaf Scholz, sich in aller Klarheit von dieser Gewalt zu distanzieren, um sie nicht weiter anzuheizen", sagte Linnemann.

Auch andere Parteien berichten von Angriffen auf ihre ehrenamtlichen Wahlkämpfer und Politiker. Im vergangenen Jahr waren die Grünen insgesamt am häufigsten von Attacken betroffen. Von Gewaltdelikten war allerdings die AfD am stärksten betroffen. Das geht aus neuen Zahlen des Bundesinnenministeriums hervor. Insgesamt erreichten die Angriffe 2024 nach vorläufigen Zahlen den höchsten Stand im bisherigen Erfassungszeitraum von sechs Jahren.

In Berlin verdauen Jan Heuer und Alex Gerasimenko noch den Schock vom Vorabend. Diesmal ist es glimpflich ausgegangen, aber sie machen sich schon Gedanken: Was, wenn sie beim nächsten Mal weniger Glück im Unglück haben? Was passiert, wenn plötzlich eine Waffe im Spiel ist? 

"Ich werde weitermachen, aber mit einem sehr mulmigen Gefühl", sagt Gerasimenko. "Ich will nicht wissen, wie das für jüngere Leute und für Frauen sein muss." Jan Heuer sagt, er werde künftig vorsichtiger sein. Aber da ist noch ein Gefühl: "Jetzt erst recht!"