Interview: Reinhard Bütikofer Grüne Kanzlerkandidatur bei rund 10 Prozent in Umfragen – ist das vermessen?

Reinhard Bütikofer (Grüne)
Reinhard Bütikofer, Ex-Parteichef der Grünen: "Die guten Ideen werden dann am mächtigsten, wenn man sie nicht als Eigentum betrachtet"
© Rüdiger Wölk / Imago Images
Am Wochenenende machen die Grünen Robert Habeck zu ihrem Kandidaten für die Bundestagswahl. Grünen-Urgestein Reinhard Bütikofer erklärt im stern, worauf es dann ankommt.

Herr Bütikofer, Hand aufs Herz, eine Kanzlerkandidatur der Grünen bei rund 10 Prozent in Umfragen – ist das nicht vermessen?   
Die Umfragen lesen wir auch. Aber in der schwierigen Lage, in der sich Deutschland befindet, wollen wir nicht am Rand stehen, sondern den Wettbewerb darüber aufnehmen, wie es besser werden kann. Für diesen Ehrgeiz steht die Kandidatur.

Wartet jemand auf ein "Kanzler-Angebot" der Grünen? Das ganze Jahr über wurden Sie in den Wahlen abgestraft.  
Ja, wir haben Fehler gemacht, wir haben Vertrauen verloren. Trotzdem braucht dieses Land Grün. Wir sind stark genug, aus den Fehlern zu lernen. 

Reinhard Bütikofer

engagiert sich seit 40 Jahren bei den Grünen. Zu Zeiten der ersten rot-grünen Bundesregierung war er der Bundesgeschäftsführer der Partei. 2002 wurde er zu einem der beiden Parteichefs gewählt. Von 2009 bis Juli dieses Jahres war er Abgeordneter im europäischen Parlament, mehrere Jahre lang auch Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei. Er gehört dem realpolitischen Flügel der Grünen an.

Zweifelhaft, ob das klappt. Die Grünen präsentierten sich in letzter Zeit als verunsicherte, verschreckte Partei.
Sie dürfen zweifeln, wir werden kämpfen. Wir haben jetzt in der Tat eine ganze Weile enormen Druck gekriegt. Das setzt zu. Doch der Wind bläst uns nicht um. Der erhebliche Mitgliederzulauf, den wir gerade haben, ermutigt. Wenn etwa Herr Söder und Frau Wagenknecht ganz besonders heftig auf Grün eindreschen, höre ich da wenig Aufbruch, den wir brauchen, und viel Pfeifen im Walde der Orientierungslosigkeit.

Wie reagiert man darauf? Die Antwort auf solche Attacken haben die Grünen bislang nicht gefunden. 
Darf ich Ludwig Uhland in Erinnerung rufen? "Der wackre Grüne forcht sich nit, geht seines Weges Schritt für Schritt." Für uns kommt es im Wahlkampf darauf an, Initiative und Entschlossenheit mit Demut und Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu verbinden.

Ricarda Lang: Die scheidende Grünen-Vorsitzende
Ricarda Lang: Die scheidende Grünen-Vorsitzende
© Daniel Kubirski / Imago Images
Ricarda Lang kritisiert in Abschiedsrede "Elitenprojekt"-Image
© n-tv.de

"Grüne gehören keinem der beiden traditionellen politischen Lager an"

Die Grünen stecken in einer Art "Identitätskrise". Ist Ihnen klar, wer die Grünen sind?  
Da scheinen Sie was zu sehen, das ich nicht sehe. Wir wissen, wer wir sind.

Nämlich? 
Wir halten bei der Klimapolitik Kurs und haben als Freiheitspartei eine klare Position gegenüber autoritären Gefahren. Wir Grüne haben weder gegenüber Putin noch gegenüber dem totalitären China Klarheit vermissen lassen, im Unterschied zu vielen anderen. Wir sind eine feministische Partei, setzen uns verlässlich für Menschenrechte ein und für Partnerschaft mit dem globalen Süden. Wir sind eine sehr bewusst europäische Partei. Und wir treten für Gerechtigkeit ein, zumal große Ungleichheit auch die Demokratie gefährdet.   

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Robert Habeck will erstmal zuhören, zu Leuten an den Küchentisch kommen … 
Keine schlechte Idee, oder?

Warum?  
Winfried Kretschmann, bis jetzt mit Abstand unser erfolgreichster Politiker, hat zu Beginn seiner Amtszeit als Ministerpräsident die Politik des Gehörtwerdens ausgerufen. Ein Großteil seiner Glaubwürdigkeit und seines Erfolgs beruht darauf.

Kretschmann ist ein Oberrealo, man könnte sagen: ein Konservativer im Körper eines Grünen. Habeck will offenbar auch ins Konservative ziehen. Er hat eine "Merkel-Lücke" ausgemacht, in die er stoßen will. 
Am Konservatismus ist nicht alles falsch, aber eine konservative Partei werden wir nicht, keine Sorge. Und was ist die Merkel-Lücke?

Wählerinnen und Wähler der ehemaligen CDU-Kanzlerin zu erreichen, die mit Friedrich Merz fremdeln.  
Damit sind also nicht konservative, sondern liberal denkende Wählerinnen und Wähler gemeint. Mal sehen, was geht. Ich habe übrigens nicht vor allem Verlustgefühle, wenn ich an Frau Merkel zurückdenke. Vieles, was sie verantwortet, kommt uns teuer zu stehen, etwa die Abhängigkeit von russischen Gasimporten, ausgebliebene Investitionen, kein wirtschaftspolitischer Aufbruch. Viele Leute hat ihre bedächtige Art beeindruckt. Aber sie hat sich von der Bedächtigkeit zu sehr hinreißen lassen.

Kretschmann hält die Grünen für eine bürgerliche Partei, der Parteinachwuchs meint, sie müssten eine linke Partei sein. Auf wen sollen die Grünen zielen? 
Grüne gehören keinem der beiden traditionellen politischen Lager an. Nachdem wir 2005 aus der Bundesregierung abgewählt wurden, haben wir einen Kurs der Eigenständigkeit eingeschlagen. Wir sind ein eigenständiger politischer Pol, nicht jemandes Beiboot.

Da machen Sie es sich einfach.  
Einfach ist es nicht gerade, aber es ergibt Sinn. Wir greifen durchaus bestimmte linke Traditionen auf, etwa in der Frage der Gerechtigkeit. Aber auch Themen, die mal konservative waren, wie das Bewahren der Natur, sind bei uns beheimatet. Und in der Abwehr bestimmter neo-feudaler Entwicklungen von heute ist das Engagement dafür, dass man durch Leistung etwas erreichen kann und dass Wettbewerb fair sein muss, nach wie vor progressiv.

Die Frage scheint weiter ungeklärt zu sein. Mit den vielen Niederlagen ihrer Partei, bei der Europawahl, den Landtagswahlen, sind die traditionellen Flügelkämpfe zwischen Realos und Linken neu aufgebrochen.
Ich bitte um Nachsicht, aber da muss ich schmunzeln. Flügelkämpfe? Ich war dabei, als es Flügelkämpfe gab, das war was anderes. Es gab eine Zeit, wo die eine Hälfte der Grünen lieber gar nicht regieren wollte. Die Zeit dieser fundamentalen Flügelkämpfe ist längst vorbei. Aber Franz Müntefering hatte Recht, als er kürzlich sinngemäß sagte, dass es einer Partei nicht schadet, wenn sie mal streitet. 

Also werden sich die Grünen trotz aller Kritik an einem zu pragmatischen Kurs brav hinter Habeck einreihen?
Dass alle immer ganz brav sind, kann keiner versprechen, aber "brave" schon, um das englische Wort zu benutzen. Im Übrigen ist eine wahlkämpfende Partei keine militärische Kolonne, bei der man sich einreiht. Die Person an der Spitze verkörpert unseren Kurs. Aber ich hoffe doch, dass auch alle anderen ihre Kreativität ins Spiel bringen. Joschka Fischer war dreimal unser erfolgreicher Spitzenkandidat. Er konnte das. Das erwarte ich von Robert Habeck auch.

Schafft er es auch, dass die Grünen das Besserwisser-Image loswerden? 
Wenn mal ein solches Etikett zugeteilt ist, dann geht es, wie ein lateinisches Sprichwort sagt: Das Gute wird gerne vergessen, an das Schmerzliche erinnert man sich leichter. Wir haben in der Ampel vieles richtig gemacht und Erfolge erzielt, aber auch Fehler gemacht. Da hilft nur Ehrlichkeit und Geduld.

Das Heizungsgesetz?
Beim Gebäudeenergiegesetz ist der Eindruck entstanden und dann holzhammermäßig gegen uns gewendet worden, wir wollten den Leuten was überstülpen. Dabei muss eine solche Reform ein Projekt der Teilhabe sein.  

Und jetzt soll der Mann, der für diesen Fehler steht wie kein anderer, die Grünen in den Wahlkampf führen? 
Das ist genau richtig.  

Habeck und Bütikofer im Jahr 2019
Zwei Realos unter sich: Habeck und Bütikofer im Jahr 2019
© Hartenfelser / Imago Images

Wie bitte?
Habeck hat in der Energie- und Industriepolitik Großes geleistet für unser Land. Aber nur wer gar nichts tut, macht keine Fehler. Doch wer kann Fehler glaubwürdiger überwinden als der, der sie gemacht, eingesehen und korrigiert hat?

Bei der letzten Bundestagswahl plakatierten die Grünen "Bereit, weil ihr es seid"…
Ich fand das eine falsche Parole.

Weil der Slogan zu sehr die Veränderung betont hat? 
Aber nein! Veränderung vermeiden zu können, das wäre ein Irrglaube. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass unsere Industrie ökologisch modernisiert wird, dann putzt uns die unfaire chinesische Konkurrenz von der Platte. Der Fehler an der Parole war die Erwartung, eigentlich gebe es keine großen Widerstände mehr gegen diesen Kurs. 

Und dann wurden die Grünen eines Besseren belehrt. 
Eines Schlechteren. Trotzdem kommt es gerade wegen der Widerstände darauf an, diese Veränderung auf einem partnerschaftlichen Weg zu meistern. Man darf nicht sagen: Wegen des 1,5 Grad-Ziels können wir beim Klimaschutz leider keine Rücksicht mehr auf deine Lebensumstände nehmen, auf deine soziale Lage, auf die wirtschaftliche Wettbewerbssituation.

Klimapolitik wird immer mehr zum Kulturkampf. Wie wollen Sie das ändern?  
Wir können das vermeiden, wenn wir nicht stolz darauf sind sagen zu können: "Nur wir Grüne sind für XYZ." Vielmehr gilt: Die guten Ideen werden dann am mächtigsten, wenn man sie nicht als Eigentum betrachtet, sondern teilt. Und bei ihrer Umsetzung einen pragmatischen Weg wählt. 

Das heißt, mit allen zusammenkommen, die für Klimaschutz sind?
Ja, mit allen Demokraten, mit denen ich mich an anderer Stelle auch gern streite. Deshalb sagen wir den Linken und den Konservativen: Wir müssen Klimaschutz auch als Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit, zum wirtschaftlichen Erfolg, zur künftigen Wettbewerbsfähigkeit verstehen.

Aber wenn das alle so sähen, wer wählt dann noch die Grünen? 
Da fällt mir die Geschichte mit diesem Doktor ein.

Erzählen Sie!
Ihr Hausarzt stellt Ihnen eine Diagnose. Alle anderen Ärzte, die Sie zudem konsultieren, sind der Meinung, das sei völlig falsch. Sie hören trotzdem auf den Hausarzt – und gesunden. Danach geben nach und nach die anderen zu: "Stimmt, er hatte doch recht." Würden Sie da Ihren Arzt wechseln? 

Motto: Wer hat’s erfunden?
Wir stehen glaubhaft dafür, dass wir an dieser Baustelle nicht nur dann arbeiten, wenn die Sonne scheint. Alle anderen sind gerne eingeladen, in diesen Wettbewerb einzutreten. Uns Grüne würde das nicht überflüssig machen. Zudem bestehen wir ja nicht nur aus Klimapolitik.

2021 galten die 14,8 Prozent, die Annalena Baerbock holte, als herbe Enttäuschung gemessen an den damaligen Verhältnissen. Stand jetzt wäre dieser Wert ein grüner Traum. Was wäre ein Erfolg? 
Einen Erfolg haben wir dann erzielt, wenn wir stark genug sind, um mitregieren zu können ...

Bei wie viel Prozent?  
... und wenn sich die Meinung durchsetzt, dass wir was zu Tische bringen, das Land und Leuten nützt. Das ganze Gerede über die Prozente und wer mit wem  – das ist Nabelschau. Das sollten wir hintanstellen. 

Sie sind seit 40 Jahren bei den Grünen, waren sechs Jahre lang ihr Vorsitzender, saßen bis Juli dieses Jahres im Europaparlament. Auf dem Parteitag werden Sie nun offiziell verabschiedet: Wie fühlt sich das an?   
Ich habe vor, mich weiter einzumischen.