Interview mit Cornelia Pieper FDP plant radikale Bildungsreform

Einschulung mit fünf, Abitur nach zwölf Jahren, Zentralabitur: Die FDP plant eine radikale Reform ihrer Bildungspolitik. Im Gespräch mit stern.de erklärt Staatsministerin Cornelia Pieper ihre Ziele - und warum sie dafür sogar das Grundgesetz verändern will.

Frau Pieper, der stern hat unlängst die Frage aufgeworfen, warum die FDP nicht für ein einheitliches Schulsystem kämpft. Sie haben sich angesprochen gefühlt. Was sind ihre Vorschläge?
Ich bin gegen die immer noch bestehende Kleinstaaterei in der Bildungspolitik. Bund, Länder und Kommunen müssen endlich zu einer echten Bildungspartnerschaft finden. Wir brauchen weniger Kultusbürokratie, mehr und konsequente Eigenverantwortung der Schulen, aber auch bundeseinheitliche Qualitätsstandards der Schulen und natürlich die bundesweite Anerkennung aller in einem Land erworbener Bildungsabschlüsse.

Weil es das nicht gibt, ziehen viele Eltern nicht um, obwohl sie beruflich davon profitieren würden - weil sie befürchten, dass ihre Kinder in der neuen Schule Schwierigkeiten bekommen könnten.
Das ist leider oft so. Wir sind das einzige Land auf der Welt, das den eigenen Bürgern solche Schwierigkeiten bereitet. Das verträgt sich nicht mit dem Anspruch, Bildungsrepublik sein zu wollen. Deshalb muss hier ganz dringend etwas geändert werden. Das Kooperationsverbot im Grundgesetz muss gestrichen werden, damit Bund, Ländern und Kommunen in der Schulpolitik wieder zusammenarbeiten können.

Weshalb gibt es in Deutschland eigentlich kein Zentralabitur?
Das darf auf keinen Fall so bleiben. Ich gehöre zu den Befürwortern eines bundesweiten Zentralabiturs, das sich allerdings auf Prüfungsfragen in den Kernfächern konzentriert und den Schulen Raum für ein eigenes Profil lässt.

Muss Bildung nicht auch schon viel früher ansetzen? Sollte die Politik das Einschulungsalters auf fünf Jahre herabsetzen?
Ja. Das muss unbedingt kommen.

Kinder gut betuchter Eltern haben hierzulande ungleich größere Bildungschancen als Kinder von Hartz-IV-Eltern. Zutreffend?
Leider weitgehend ja. Es muss etwas gegen diese von Anfang an bestehende Chancenungleichheit getan werden. Wir brauchen ein nationales Programm für die frühkindliche Bildung. Ich schlage vor, dass wir allen Kindern einen Bildungsgutschein geben, den die Eltern dann im Kindergarten, in der Krippe und in Fördervereinen einlösen können - zum Beispiel für Sprachkurse.

Daraus ist bislang nichts geworden - und wird wohl auch nichts.
Das hoffe ich nicht. Die Möglichkeit, Bildungsschecks einzuführen, steht ausdrücklich im Koalitionsvertrag. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass alle Kinder am Anfang ihres Lebens halbwegs gleiche Chancen bekommen. Die Reparaturkosten bei misslingenden Schullaufbahnen hinterher sind viel teurer. Wir haben in Deutschland immer noch 90.000 Schüler im Jahr, die ohne Abschluss abgehen. Das muss verhindert werden.

Ihren Zielen steht die Kultusministerkonferenz im Wege, ein Gremium, bei dem der Bund nur zuschauen darf.
Das ist ein Missstand. Ohne den Bund fehlt es an Koordination und Moderation. Die Kultusministerkonferenz tut sich bei notwendigen Entscheidungen sehr schwer. Bei der europäischen Diskussion über Bildung ist durch die Zersplitterung Deutschland kaum zu hören. Sie bringt uns in ihrer derzeitigen Form nicht weiter. Wir brauchen analog zu der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, die sehr gut funktioniert, eine gemeinsame Bildungskonferenz von Bund und Ländern.

Es gab einmal die Hoffnung, dass es nach der Wiedervereinigung besser würde. Doch die Vorteile des DDR-Schulsystems wurden systematisch ausgemerzt. Richtig?
Ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr aus den guten Teilen des Bildungssystems im Osten Deutschlands übernommen hätten. In Teilen ist das ja auch geschehen. Der vernünftige Vorschlag, schon nach 12 Jahren Abitur zu machen, stammt aus den neuen Ländern.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Was hätte die Politik noch übernehmen müssen?
Man hätte die frühkindliche Bildung schnell verstärken müssen- in Ostdeutschland gab es ein dichtes Netz an Krippen und Kindergärten mit hoch qualifizierten Erziehern, die sogar einen Fachabschluss hatten. Wie haben 20 Jahre gebraucht, um über Standards zu diskutieren, die bei uns längst pädagogische Praxis waren. Jetzt kehrt man in ganz Deutschland auf Druck der Wirtschaft wieder zu diesen bewährten Positionen zurück. Und das zeigt doch wohl überdeutlich, dass wir hier eine Entwicklung verschlafen haben.

Fühlen Sie sich durch die Pisa-Ergebnisse ermuntert?
Wenn sie sich das neuste Pisa-Ranking ansehen, leben die schlausten Schüler in Sachsen, dann kommen die Thüringer, dann die Baden-Württemberger und dann die Bayern. Das belegt meine These, dass das ostdeutsche Bildungssystem so schlecht nicht war, wenn man von dem ideologischen Ballast absieht.

Momentan sind wir von der viel beschworenen "Bildungsrepublik" in Deutschland kilometerweit entfernt. Warum nehmen die Parteien das Thema nicht ernst?
Das stimmt jedenfalls für die FDP so nicht. Es ist auch das Verdienst der FDP, dass in den kommenden vier Jahren zwölf Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung fließen. Wir haben auch das nationale Stipendienprogramm installiert, mit dem die Zahl der Stipendienempfänger von zwei auf zehn Prozent erhöht werden soll.

Dennoch wird die FDP nicht mit dem Thema Bildung identifiziert. Wie wollen Sie das ändern?
Im Mai haben wir einen Bundesparteitag, auf dem wir über Bildungspolitik sprechen werden. Ich arbeite an einem Antrag, der auf die Streichung des Kooperationsverbots im Grundgesetz zielt, mehr Bundeskompetenz in der Bildung einfordert und das bundeseinheitliche Abitur vorschlägt.

Für solche einschneidenden Schritte brauchen Sie prominente Befürworter in der FDP. Wer könnte das sein?
Erstens sind es die Vertreter der neuen Bundesländer Sachsen und Thüringen, deren Kinder die Pisa-Liste ja schon anführen. Mein eigener Landesverband in Sachsen-Anhalt hat diese Positionen auf einem Landesparteitag bereits beschlossen. Zweitens sind auch Parteichef Guido Westerwelle und Generalsekretär Christian Lindner dafür, mehr Dynamik ins Bildungssystem zu bringen. Der Ehrenvorsitzende Hans-Dietrich Genscher spricht sich für das bundesweite Zentralabitur aus. Mit ihrer Unterstützung sehe ich dem Bundesparteitag gelassen entgegen.

Kann die FDP über das Thema Bildung ihre einseitige Fixierung Steuersenkungen überwinden?
In der Tat fordere ich, dass sich die FDP als Bildungspartei wieder stärker profilieren muss, früher war sie als solche sehr anerkannt. Für mich ist eine gute Bildungspolitik die beste Sozialpolitik. Investitionen in Bildung zahlen sich letztlich für alle Menschen aus und helfen, unseren Wohlstand zu sichern. Mehr als nur niedrigere Steuern. Wir Liberalen müssen wieder die Avantgarde in der Bildungspolitik werden.

Cornelia Pieper

Peter Endig/DPA/LAH Cornelia Pieper, geboren in Halle/Saale, ist als Mitglied der FDP seit 1998, mit einer Unterbrechung von Mai bis Oktober 2002, Bundestagsabgeordnete. Die studierte Dolmetscherin war viele Jahre stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Bildung und Forschung, seit 2005 ist sie stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP. Im November 2009 wurde die Liberale Staatsministerin im Auswärtigen Amt.

Von Hans-Peter Schütz