Zum Feiern ist den Sozialdemokraten nicht zumute. Der erste Jahrestag von Gerhard Schröders Reformrede wird weitgehend ignoriert. In der SPD-Parteizentrale herrscht dazu Schweigen. Und von Regierungsseite wurde lediglich eine nüchterne Zwischenbilanz präsentiert - nach dem Motto: Angekündigt und umgesetzt.
Die schärfsten Kanzler-Kritiker in den eigenen Reihen geben sich weniger zurückhaltend. Wohl nicht zufällig hat die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) ihren Bundeskongress an diesem Wochenende auf den Jahrestag der Rede Schröders gelegt. Den in Erfurt versammelten Genossen vor allem aus dem gewerkschaftsnahen Lager passt die ganze SPD-Richtung nicht. Sie haben sich vorgenommen, eine Woche vor dem Berliner SPD-Parteitag noch einmal richtig Dampf abzulassen. Der AfA-Vorsitzende Ottmar Schreiner kann sich nach ständigen Anklagen gegen den Schröder-Kurs des Jubels seiner Anhänger sicher sein.
Regierungserklärung mit einer Spur von schlechtem Gewissen
Nein, eine Schicksalsrede werde das nicht, kündigte Schröder an, bevor er am 14. März 2003 kurz nach neun Uhr im Plenarsaal ans Rednerpult ging. Ob der Kanzler diese Prognose heute so wiederholen würde, ist nicht so sicher. Knapp 90 Minuten dauerte die vorher groß inszenierte Regierungserklärung, in der er mit einer Spur von schlechtem Gewissen tiefe Einschnitte und soziale Leistungskürzungen verkündete und dabei mit lange gehüteten Tabus der deutschen Sozialdemokratie brach.
Die ersten Reaktionen zu Schröders Zukunftsentwurf "Agenda 2010" ließen schon damals nichts Gutes ahnen: Stellenweise Eiseskälte aus der eigenen Reihen schlug ihm entgegen, der Beifall fiel eher spärlich aus, nur widerwillig erhoben sich viele Fraktionsmitglieder am Schluss von den Plätzen.
Eine tiefe politische Schadensspur hat dieser Kanzler-Auftritt in den zurückliegenden zwölf Monaten nicht nur in der SPD hinterlassen: Schröder warf als Parteivorsitzender das Handtuch, ebenso wie Olaf Scholz als Generalsekretär, deprimierende Wahlniederlagen wurden einkassiert, Mitglieder traten in Scharen aus und die SPD- Umfragewerte stürzten auf historische Tiefstände.
Führungspersonal hart abgestraft
Auch die ständigen Beschwörungsappelle der Parteispitze haben bislang nicht zum erhofften Stimmungswandel geführt. Im Gegenteil: Mit einem Mitgliederbegehren, das allerdings kläglich scheiterte, machte die verstörte SPD-Basis ihrem Unmut Luft. Bei den Wahlen auf dem Bochumer Parteitag im November wurde das Führungspersonal für den Reformkurs hart abgestraft. Und fast schon ritenhaft wirft sich die Parteilinke in der Fraktion immer wieder in Positur, um vor dem Hintergrund knapper Mehrheiten die Reformumsetzung noch in ihrem Sinn umzubiegen.

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Angesichts der schlechten Stimmungslage und anhaltender Störmanöver aus dem Bremser-Lager will auch der eine oder andere führende Sozialdemokrat derzeit jedenfalls nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass Schröder auf jeden Fall bis 2006 weiterregiert. In Sachen Rente oder Pflege droht in den nächsten Monaten neuer innerparteilicher Zoff. Und erst im Zusammenspiel mit dem künftigen Doppelvorsitzenden Franz Müntefering wird sich herausstellen, über wie viel Autorität der Kanzler tatsächlich verfügt.
Für Schröder ist es wohl ein schwacher Trost, dass es quer durch Europa Amtskollegen aus allen Lagern kaum anders geht als ihm, sobald sie unpopuläre Reformen tatsächlich anpacken. Am vergangenen Sonntag erwischte es bei den österreichischen Regionalwahlen verheerend die Konservativen von Kanzler Wolfgang Schüssel, den die Wähler für drohende Renteneinbußen in Regress nahmen. Aus ähnlichen Gründen droht den französischen Konservativen ein Debakel bei den anstehenden Regionalwahlen.
Die Bilanz nach einem Jahr
Der Kündigungsschutz
wurde flexibilisiert. Kleinbetriebe können bis zu zehn - früher fünf - Mitarbeiter beschäftigen, ohne dass für alle der Kündigungsschutz gilt.
Arbeitslose
sollen gezielter und schneller vermittelt werden. Dazu wurde mit dem - von Pannen begleiteten - Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen Dienstleister begonnen. Der Druck zur Annahme einer Beschäftigung steigt:
Arbeitslosengeld
gibt es vom 1. Februar 2006 an nur noch für 12 Monate, für Ältere 18 Monate lang. Beschlossen ist die Einführung des
Arbeitslosengeldes II
, das Anfang 2005 Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenführt. Die Finanzierung ist aber noch strittig.
Die Handwerksordnung
wurde gelockert. Gesellen können nun in den meisten Handwerksberufen auch ohne Meisterbrief einen Betrieb eröffnen. Wegen der erneuten Lehrstellenlücke bereitet die Koalition die von Schröder angedrohte, intern aber umstrittene
Ausbildungsumlage
vor. Weil der Kanzler seine Forderung nach flexibleren
Tarifverträgen
als erfüllt ansieht, verzichtet die Regierung auf die gesetzliche Absicherung betrieblicher Bündnisse.
Zur Stabilisierung der
Rentenkassen
wurde eine Vielzahl mittel- und langfristig wirkender Eingriffe beschlossen. 2004 werden die Renten nicht erhöht, von 2005 an langsamer steigen. Die Neuregelungen sollen den Beitragssatz von derzeit 19,5 Prozent stabil halten und bis 2020 nicht über 20 Prozent steigen lassen.
Die zu Jahresbeginn in Kraft getretene
Gesundheitsreform
zielt auf Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung und Senkung des durchschnittlichen Beitragssatzes von derzeit über 14 auf unter 13 Prozent. 2004 sollen die Kassen um neun bis zehn Milliarden Euro entlastet werden: Durch höhere Patienten-Zuzahlungen oder die von der Union durchgesetzte Praxisgebühr. Auch Ärzte, Apotheker, Pharmafirmen und Krankenkassen müssen Sparbeiträge leisten. 2005 fällt Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der Kassen, muss separat versichert werden.
Die auf den 1. Januar 2004 vorgezogene
Steuerreform
entlastet die Bundesbürger um 15 Milliarden Euro, die letzte Stufe zu Beginn kommenden Jahres noch einmal um 6,5 Milliarden Euro. Die angekündigte Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge liegt auf Eis. Finanzminister Hans Eichel will vor einem Gesetzentwurf zunächst die Pläne der Union abwarten. CDU und CSU haben das Thema aber vertagt.