Der Mitarbeiter des Bundespresseamts muss sich gefühlt haben, als sei er unter die Wegelagerer gefallen. Von allen Seiten grabschte die Medienmeute nach dem Stapel Pressemitteilungen, die er vor dem Saal der Berliner Bundespressekonferenz verteilen wollte. Von hinten, vorne und der Seite rissen ihm die Journalisten das Dokument mit der Aufschrift "Aufschwung - Teilhabe - Wohlstand" aus der Hand.
Haben sich die rüden Kraftakte gelohnt, mit denen am Freitagnachmittag in Berlin vor der Pressekonferenz von Angela Merkel und Franz Müntefering über die Ergebnisse der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg gearbeitet wurde?
Der erste Satz des zehnseitigen Papiers: "Deutschland befindet sich im Wandel." Aha, hätte man ja fast gedacht. Nächster Satz: "Die Globalisierung und die demografische Entwicklung stellen Politik und Gesellschaft vor große Herausforderungen." Also, das hat man irgendwo auch schon mal gehört. Wer länger bei der Lektüre durchhielt, geriet spätestens bei der Ankündigung eines Bundesprogramms mit dem Titel "Schulverweigerung - die zweite Chance" ins Grübeln.
Wie war denn das gemeint? Gehörte das zu den von der Kanzlerin angekündigten Beschlüssen, die große Koalition werde in Meseberg die Weichen "für ein zukunftsfähiges Deutschland für die nächsten Jahre und Jahrzehnte" stellen? Oder war die Umsetzung dieser Ankündigung eher in dem Satz versteckt, zur Klärung der Frage der Zuwanderung qualifizierter Ausländer "werden die zuständigen Ressorts zügig einen Vorschlag über ein systematisches Monitoring zu Ermittlung des Bedarfs entwickeln"?
Kein Erkenntnisgewinn über die menschliche Schiene
Auch über die menschliche Schiene war kein größerer Erkenntnisgewinn über den internen Ablauf der anderthalb Tage in Schloss Meseberg möglich. Angie kam im orangefarbenen Blazer, Münte wie immer in mausgrau. Sie sah müde aus und ganz so, als ob sie einen Satz von Theodor Fontane auswendig gelernt hätte, der da lautet: "Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht." Er blickte so undurchsichtig streng drein wie immer, wenn es gilt, das Verharren der SPD in der ungeliebten Liaison zu begründen. Nur Münteferings Augenbrauen schienen noch spitzwinkliger nach oben zu streben als sonst.
Sehr lange ist es ja nicht her, dass der Vizekanzler zornrot die Kanzlerin angemacht hatte, weil die sich bei seiner Forderung nach einem generellen Mindestlohn querlegt. Waren sie sich in Meseberg menschlich wieder näher gekommen? Einander angelächelt haben sich die beiden erst nach der Pressekonferenz, als sie zurück zu ihren Dienstwagen strebten. Selbst die Frage "Ist es Ihnen gelungen, ihren Vize wieder um den Finger zu wickeln?", entlockte der Kanzlerin keinen Scherz und Müntefering nur ein gequältes Lächeln. Fontane hat das schon richtig vorhergesehen: In dieser Koalition lebt keiner mehr mit Lust, nur die Pflicht zwingt sie noch zusammen.
Mit gut 50 Sachfragen hat sich das Kabinett auf der Klausur beschäftigt. Mit dem Arbeitsmarkt, dem Fachkräftemangel, der Forschungspolitik, dem Klimaschutz, der sozialen Marktwirtschaft im Zeichen der Globalisierung. Das klingt umfassend. Ein neues politisches Großprojekt ist nicht dabei. Merkel sagte: "Wir haben ein umfangreiches Arbeitsprogramm vor uns." Müntefering sagte: "Ich bin sicher, die Koalition wird ganz viel zu tun haben." Weshalb sie - nur ein Beispiel - es nicht schon jetzt geschafft hat, benzinfressende, CO2-spuckende Landrover nicht länger als steuerbegünstigte Dienstwagen anzuerkennen, blieb im Dunkeln.

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Die Klausur sei als Chance gedacht gewesen
Die Klausur sei als Chance gedacht gewesen, einmal aufs Ganze zu schauen, hieß es entschuldigend. Zum Beispiel auf die Tatsache, dass die Union in Umfragen nicht mehr über die 40 Prozent kommt, die SPD satt unter der 30-Prozent-Marke festsitzt. Sollten die Bürger sich schlecht regiert fühlen?
"Ach", antwortete da die Kanzlerin, "man darf nicht jeden Tag auf Umfragen gucken". Sie sei sicher, ergänzte sie, dass alle drei Parteien der Koalition mit erhobenem Haupt in die Bundestagswahl gehen. "Da bin ich gar nicht bang." Da blieb Müntefering nur noch, ebenfalls ganz mutig in die SPD-Zukunft zu blicken: "Wir auch nicht!" Er schloss die Augen bei diesem Satz.