Nach dem TV-Duell zwischen Kanzlerin Merkel und Martin Schulz, gab es im TV-Studio eine drollige Szene, dort, wo die Journalisten spökenkiekten und Wein tranken. In kleinen Kränzchen standen sie zusammen und gaben der soeben erlebten Fernsehshow einen Spin. Meist führte einer der journalistischen Platzhirsche das Wort, ein Großkommentator, Alphareporter, TV-bekannte Nasen und talkgestählte Blauaugen.
Alle waren sich ziemlich sicher, dass Schulz einen Tick besser gewesen sei als Merkel. Dass er, wenn auch nicht glänzend, so aber doch das Duell gewonnen habe. Der stammelnde Martin mit seinem "chiitichen Philosophen"?
Ich sah es anders: "Ich glaube, der verliert", sagte ich, "und dann kommt die Nahles." Da drehten sich die Studioleiter, Politikberater und Hauptstadtkorrespondenten mit amüsiertem Blick zu mir, wie zu einem lernunwilligen Kind und riefen: "Die Naaahhhhles???" Ein Witz! Welche Ahnungslosigkeit! Wie naiv bist du denn! "Mein, Gott, die Nahles", sagte einer, "Herr, verschone uns!"
Andrea Nahles im Kampf gegen die Alphatiere
So war es eigentlich immer schon. Wenn der Name "Nahles" fiel, ging bei den meisten Politik-Journalisten die Klappe runter. Und das schreibe ich hier nicht aus dem üblichen Frauengedöns-Reflex, der besagt, dass immer die Männer an allem Schuld sind. Nein, es ist die nüchterne Beobachtung aus vielen Jahren. Hätte es parallel zum Aufstieg der designierten Parteichefin mehr Frauen in der Politikberichterstattung und in den Talkshows gegeben, wäre sie heute möglicherweise schon Kanzlerin. Steile These, stimmt aber.
So gesehen ist Nahles greifbarer Aufstieg an die Parteispitze auch ein Triumph über den hauptstädtischen Männerjournalismus. Ein Sieg über die Berliner Schlechtredner und Nichternstnehmer in den Redaktionen. Über die, die sie früher nicht auf großen Bildern sehen wollten, weil sie - pardon - "scheiße" aussähe. Die stattdessen lieber Peter Altmaier abdruckten, oder Horst Seehofer, oder Thomas de Maiziere. Gestandene Kerle. Originelle Typen. Alphatiere wie sie selbst. Nahles war laut. Sie war weder als pfälzische Weinkönigin zu attribuieren, noch als blonde Eifel-Barbie.
Viele haben dann nicht einmal richtig mitgekriegt, wie die Ex-Juso-Chefin, Ex-Generalsekretärin, wie das wilde Mädchen mit den krausen Haaren immer ministrabler wurde, immer fleißiger, erfolgreicher. Wie Nahles mit immer glatter geföhnten und immer kürzeren Haaren ein Gesetz nach dem anderen gelang, wie sie nach kürzester Zeit eigentlich der erfolgreichste Minister (!) in Merkels Kabinett wurde. Sogar Seehofer hat sie gelobt. Aber in den meisten Medien flog sie unterm Radar. Sie hatte ja auch keine PR-Berater.
"Kann grade nicht, bin Standesamt"
Eigentlich hätte Andrea Nahles auf die Titelseiten gehört, auf die Cover. Aber die Welt ist kein gerechter Ort und Mindestlohn kein Thema, das sexy klingt. Gut, manchmal trägt sie noch immer diese kastigen Hausmeister-Jacken. Blaugrau mit schwarzen Ärmeln, man denkt, gleich holt sie die Rohrzange raus und kneift einem Fraktionskollegen die Leitung ab. Und sie sagt "Fresse" oder "Bätschi". Sie reißt manchmal mit dem Hintern ein, was sie mit den Händen aufgebaut hat. Aber war Steinbrücks Stinkefinger nicht viel kindischer, ordinärer? Und würden Markus Söder oder Christian Lindner "Fresse" und "Bätschi" sagen, wäre das längst "Kult".
"Verdammte Kacke", schimpfte Frau Nahles schon früher oft, "das hat uns gerade noch gefehlt, meine Fresse noch mal!" Wenn sich die Granden hervortaten sagte sie: "Meine Fresse, sind da wieder viele Platzhirsche auf der Lichtung!" Sie wusste genau, dass die Journalisten am Ende dann aber doch wieder lieber den Zwölfendern die Spalten in der Zeitung freiräumten als ihr. Egal wie dünn die Säure war, die diese verklappten. "Jaaa, meine Fresse, Leute, überlegt doch mal!" Manchmal, wenn sie sich selbst so wild reden hörte, dachte sie: "Ist die eigentlich noch ganz knusper?"
Für mich klangen ihre ungeschützten Ausbrüche immer sympathisch. Und echt. Einmal simste ich ihr eine Frage zu irgendeinem SPD-Problem. "Kann grade nicht", simste sie zurück, "bin Standesamt".
"Münte" wurde der Voooogel gezeigt
Im Oktober 2005, sie war gerade 35, wollte der damalige SPD-Vorsitzende einen Vertrauten zum Generalsekretär machen. Franz Müntefering war so etwas wie der Patenonkel der Partei, man kann auch sagen: ein Gott mit plüschigen Koteletten. Fast hätten sie sich deshalb nicht getraut, aber dann hatte einer von den Jüngeren Andrea Nahles als Gegenkandidatin für den Posten vorgeschlagen. Denn Demokratie heißt ja schließlich, die Wahl zu haben zwischen politischen Alternativen. Überraschend haben die SPD-Leute dann Nahles gewählt, und "Münte" den Voooogel gezeigt. Der schmiss die Brocken.
Anderntags sabberte die "Bild"-Zeitung etwas von "Münte-Mörderin" und davon, dass Frau Nahles "einen Mann braucht", der "ein Kätzchen aus ihr macht". Was ein damals 62-jähriger Kolumnist eben so fantasieren durfte. Mehr noch als in der Partei haben sie ihr in den Berliner Redaktionen damals übel genommen, dass sie den beliebten, journalistisch und Bonmot-mäßig außerordentlich ergiebigen Parteichef von der Bildfläche geschossen hatte. Nun mussten die Kollegen mit dem wuchtigen Nachfolger Kurt Beck klar kommen und mit dessen grünen Goldknopf-Jacken.
In dieser Zeit galt Andrea Nahles in journalistischen Zirkeln als "intrigant". Sie stichle und hintertreibe, sie sei machtversessen, hieß es. Außerdem fliege sie gedanklich doch eher flach. Was man eben so sagt, wenn man Frauen, die nach oben wollen, stoppen will. Der Meinungsforscher und Schröder-Fan Manfred Güllner befand, sie sei "ein Politiker-Typus, der kein sehr hohes Ansehen hat. Jemand, der nur darauf erpicht ist, die eigene Macht abzusichern. Sie hat offenbar kein Gespür dafür, was die Menschen bewegt." Ausgerechnet. Andrea Nahles aß die Bockwurst noch aus der Hand als sie in Berlin längst von vegetarisch auf vegan umgeschwenkt waren.
Der blutvoll zuckende Muskel der SPD
Manchmal donnerte sie auch bewegende Sätze ins Publikum: "Leute, wir wollen doch bitteschön die Waffengleichheit von Kapital und Arbeit wiederherstellen!" Tolle Sätze. Ist man 40, fühlt man sich automatisch wieder jung und kämpferisch, wenn man sie hört. Leider waren die Männer, die über Nahles schrieben, oft schon um die 50. Und in diesem Alter ist man eher genervt von Parteisprech, Dogma-Gehabe und burschikosem Jargon.
Das Komische war, dass Andrea Nahles genau so funktionierte wie der, den sie lange bekämpfte und die meisten Journalisten und Meinungsforscher bewunderten: Sie war und gibt sich wie Gerhard Schröder. Die gleiche Unerschrockenheit in der Auseinandersetzung, das gleiche grimmige Beharrungsvermögen in der Sache und das gleiche Talent, mit den "kleinen Leuten" lachen zu können. Beide stammen ja aus Gegenden, die aus Landschaft und Funklöchern zusammengesetzt sind. Nicht Sigmar Gabriel, nicht Martin Schulz und erst recht nicht Olaf Scholz konnten all das auf seine und ihre Weise.
Die Genossin aus der Eifel war deshalb immer schon die beherzteste und begabteste "Schröder-Enkelin" oder "Willy-Brandt-Ur-ur-Enkelin", die es bei den Sozen gab. Denn sie konnte außerdem Partei (O-Ton Müntefering). Sie hat schon Mehrheiten organisiert, als die anderen noch theoretisierten. Die kamen als Gäste auf Parteitage, sie kannte die Delegierten namentlich. "Bätschi!" Wenn Sigmar Gabriel der Bauch der Partei war, und Frank-Walter Steinmeier - um mal einen hochseriösen Namen zu nennen - der Hirnlappen, dann war Andrea Nahles immer das Herz. Der blutvoll zuckende Muskel.
Und was heißt das jetzt?
Und was hat es ihr genützt? Nichts! Allenfalls in der "Brigitte" erschienen Lobeshymnen auf ihr Können und ihr Talent. Auf den Politikseiten wurden die anderen gefeiert. Denn die waren wie die Hand am Leib von Leitenden Redakteuren und Editors-at-Large, oder wenigstens hoch gehandelt bei Publizisten und politischen Autoren, den Meinungs-Bestimmern im Land.
Und was heißt das jetzt?
"All die Journalisten, die immer auf mich herabgeblickt haben", sagte Nahles unlängst der "Süddeutschen Zeitung", die "müssen jetzt ihren Lesern und sich selbst erklären, warum es das Landei trotzdem geschafft hat."