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Margot Honecker zum 80. "Hallo Margot, alte Hexe"

Töpfchendiktatur, Wehrerziehungslager, die Augen stramm nach links und Pionierlieder auf den Lippen - stern-Redakteur Holger Witzel hat seine persönlichen Erinnerungen an das DDR-Bildungssystem in einem Geburtstagsbrief an Margot Honecker niedergeschrieben.

Hallo Margot, alte Hexe,

wir kennen uns nicht persönlich, aber wenn man bedenkt, wie intim wir mal waren, darf ich mich zu Ihrem 80. Geburtstag vielleicht schon mal undankbar erweisen: Sie haben mich in der Kindergrippe auf den Topf gesetzt, bis ich mit 12 Monaten den Plan erfüllt hatte und sauber war. Wenn es nach dem bekannten westdeutschen Kriminologen Christian Pfeiffer geht, bin ich damit nur knapp einer brutalen Neonazikarriere entgangen, und niemand weiß, was die Töpfchendiktatur stattdessen oder sonst noch für Schäden angerichtet hat. Sie haben mir mit sieben Jahren ein Halstuch um den Hals geknotet und die Frischluft so lange gedrosselt, bis ich wie alle anderen DDR-Kinder bei Appellen stramm stand, die Augen links und immer irgend ein Gelöbnis auf den Lippen. Noch heute sind lästig große Areale meines Gehirns mit Pionierliedern und albernen Thälmanngedichten verkleistert, für die ich nirgendwo mehr Beifall bekomme. Sie und ihre pädagogischen Handlanger haben dafür gesorgt, dass ich kein Abitur machen konnte, obwohl ich bis zur zehnten Klasse immer nur Einsen hatte. Damals hat man sich nicht mal geniert, ganz offen zu sagen warum: Weil ich mit 15 Jahren nicht mit ins Wehrerziehungslager fahren wollte - schießen und marschieren als Schulunterricht! - von Ihnen persönlich 1978 eingeführt. Bei lernbehinderten Dumpfbacken, die Offizier werden wollten, oder Systemstrebern wie Angela Merkel, die sogar noch bei der Zeugnisausgabe ihr FDJ-Hemd trugen, verlief die Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit reibungsloser. Schwamm drüber: Ich habe das Abi später nachgeholt und dank einer rechtszeitigen Laune der Geschichte doch noch einen Beruf gefunden, an den ich in Ihrem System nicht mal gedacht habe. Und im Nachhinein haben bestimmt auch die Auswahlkriterien für Studienplätze und Führungskader die DDR noch ein Stück schneller zugrunde gerichtet.

Das war nicht ihre Absicht, ich weiß. Schade überhaupt, dass Sie bis heute nicht über Ihre Absichten sprechen: Wie kamen junge Kommunisten wie Sie oder ihr Mann darauf, die Jugend nach dem Krieg gleich wieder in Uniformen zu stecken und gleich zu schalten? Charaktere so nachhaltig zu verbiegen, dass mehrere Generationen von ehemaligen Pionieren noch heute mit offenem Mund staunen, wie hemmungslos westdeutsch sozialisierte Kollegen neben ihnen ihre Persönlichkeit entfalten. Ihre DDR-Volksbildung hat bleibende Schäden angerichtet, die noch gar nicht erforscht sind. Fast kommt es einem wie ein Wunder vor, wenn man immer noch auf Anhieb die Leninsche Definition vom "stinkenden, faulenden Imperialismus" aufsagen kann und trotzdem mit Börsenseite und Ausbeutern klarkommt, die jetzt Arbeitgeber heißen. Ihr Verdienst ist das nicht.

Es war doch nicht alles schlecht, werden jetzt wieder ein paar von Ihren alten Duckmäuserpädagogen raunen (schlimm genug, dass immer noch welche im Dienst sind): Das DDR-Schulsystem in Finnland, Pisa, die Kinderbetreuung und so weiter. Klar. Aber Lesen und Rechnen haben Kinder auch unter dem Kaiser oder in Bayern gelernt. Sozialistische Jugendwerkhöfe waren Ihre Erfindung. Berufs- und Studienlenkung nach gesellschaftlichem Engagement oder die massenhafte Diskriminierung von christlichen Elternhäusern oder Kindern aus Nicht-Arbeiter-Familien, nichts anderes als die Bildungschancenverteilung nach Arm und Reich. Für viele kam die Wende zu spät. Sie mühen sich noch heute im falschen Beruf ab, darunter viele Ihrer ehemaligen Lehrer.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wenn ich heute jemandem gratuliere, dann mir selbst und alle anderen ehemaligen Untertanen, die Töpfchendiktatur und Gleichschritt halbwegs unbeschadet überstanden haben oder heute - geübt in jeder Form der Anpassung - alle Defizite geschickt vertuschen. Vor allem meinen Eltern habe ich zu danken, die das Schlimmste ausgebügelt haben und mir sogar genug Anstand beigebracht haben, dass ich die Hexe von oben zurück nehme und einer alten Frau wenigstens Gesundheit wünsche, wenn sie sich schon nicht mal mehr in ihre Heimat traut.

Dankbar dafür, dass meine Kinder nie zu den Pionieren müssen oder in der Schule das Fach Wehrerziehung haben,

Ihr ehemaliger Jungpionier Holger Witzel

P.S.

Schönen Gruß an Luis Corvalan, der - wie man hört - bei Ihnen zum Geburtstagskaffeekränzchen eingeladen ist: Fragen Sie ihn doch mal, ob er das Bild noch hat, das ich 1976 für ihn malen musste, oder die 20 Pfennige, die ich für seine Freiheit gespendet habe, obwohl ich nicht mal wusste, was Freiheit heißt.

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