Michael Naumann im Interview "Yes, we can"

Für den Hamburger SPD-Spitzenmann Michael Naumann war es eine schwierige Woche. Im stern.de-Interview verriet er, wie er den Wahlkampf erlebt hat, was er von den Zumwinkels dieser Welt hält, was von Barack Obama - und wie er sich von letzterem unterscheidet.

Herr Naumann, haben Sie in dieser Woche wegen ihres Aussetzers beim TV-Duell Häme zu spüren bekommen?

Nicht bei den Wählern. Ganz im Gegenteil. Am Ende hatte ich fast das Gefühl, dass ich das immer so machen sollte. Ich treffe im Wahlkampf jeden Tag mehrere Hundert Menschen, und viele finden, dass das sehr menschlich gewesen sei. Sie ermuntern mich, mich deswegen nicht zu grämen. Viele Fernsehprofis haben mir gesagt, dass ihnen Ähnliches schon oft passiert sei. So was kommt vor.

Dieser Versprecher hat vieles überlagert. Und wenn man es genauer betrachtet, dann könnte man zu der Ansicht gelangen, dass es in diesem Hamburger Wahlkampf schlicht kein beherrschendes Thema gab, das interessanter gewesen wäre.

Das sehen Sie so. Ich nicht. Es gibt ein herausragendes Thema: Die soziale Spaltung. Die Bildungsprobleme in Hamburg sind ein zweites. Und hinzu kommt die Haushaltslage Hamburgs. Wenn der Finanzsenator und der Erste Bürgermeister regelmäßig wiederholen, der Haushalt sei ausgeglichen, sie hätten Schulden abgebaut, und man dann den schriftlichen Bericht der Finanzverwaltung an den Senat anschaut, dann merkt man, dass da einiges im Argen liegt. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt eine Kunstwelt, in der sich der Erste Bürgermeister und der Senat bewegen. Gleiches gilt für den Verkauf von öffentlichem Vermögen, der Krankenhäuser etwa. Und was für mich auch noch relevant ist, das ist die Steuergerechtigkeit. Wir haben in Hamburg eine unglaublich hohe Zahl von Einkommensmillionären. Geprüft werden jährlich etwa 16. Die Stadt hat es fertig gebracht, 20 Stellen für Steuerfahnder abzubauen.

Begünstigt Ole von Beust Steuerbetrug?

Gewiss nicht. Aber es muss doch eine wirtschaftspolitische Absicht dahinter stecken, wenn man Steuerprüfer entlässt, statt sie anzustellen.

Nimmt man die Zahl der Steuerfahnder pro Einwohner, liegt Hamburg im Mittelfeld aller Bundesländer.

Das ist eine absurde Berechnung. Es geht ja nicht um die Zahl der Einwohner, sondern um die Zahl der Einkommensmillionäre in dieser Stadt. Und die ist wohl die höchste in Deutschland.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Können Sie konkrete Beispiele für die soziale Spaltung der Stadt nennen?

In Deutschland lebt statistisch gesehen jedes siebte Kind in Armut, in Hamburg ist es jedes vierte. Wir haben eine große Zahl von Kindern in dieser Stadt, die wir mit kostenlosen Frühstücken versorgen müssen. Das hat etwas mit den sozialen Strukturen in den Familien zu tun, viele Familien können schlicht nicht mehr vom eigenen Einkommen leben.

Was machen Sie denn aus Hamburg, was Ole von Beust nicht gemacht hat, wenn Sie die Wahlen gewinnen?

Wir werden die Bildungsgebühren abschaffen, von der Kita über die Schule bis zum Erststudium. Außerdem wollen wir eine zweiwöchige Bildungskonferenz einberufen, zu der Lehrer- Eltern- und Schülervertreter sowie Experten eingeladen werden. Dort werden wir einen großen und offenen Diskurs um den Zustand unserer Schulen führen. Die Stundentafeln müssen entrümpelt werden, teuere Nachhilfe darf nicht zum entscheidenden Erfolgsfaktor für die Schule werden. Wir werden dafür sorgen, dass Schüler weiterhin nach 13 Jahren ihr Abitur machen können

Sie haben die Armut in der Stadt während verschiedener Wahlkampftermine selbst erlebt. Wie war das für Sie?

Mich hat das an meine Kindheit erinnert, an Orte, in denen ich in den 50-er Jahren aufgewachsen bin. Die verlorene Zeit meiner Jugend – plötzlich war sie wieder da. Es entwickelt sich etwas Altes bei uns, und das ist eine soziale Spaltung. Ole von Beust nennt es "soziale Erosion". Aber zugleich leugnet er sie.

Derzeit diskutiert ganz Deutschland über den Fall Zumwinkel. Sind denn "die da oben" wirklich "zu asozial" für unser Land?

Letzteres ist ein Wort von Hubertus Heil. Wenn wir mit "asozial" ein Verhalten bezeichnen wollen, das ein Leben in einer Art Parallelgesellschaft beinhaltet, dann trifft das zu. Aber es ist ein Begriff, der den Kern dieses Verhaltens nicht richtig trifft. Also, wie bezeichnet man die? Und da gibt es ein wunderbares Wort vom „dunklen“ Heraklit. Man kann das sehr verschieden interpretieren. In einem Fragment heißt es nämlich:

Zwar sind sie da/ Und sind doch nicht da

Diesen Steuerbetrügern aus der Elite fehlt das Gefühl der Gemeinsamkeit. Sie haben sich psychisch in einer anderen Welt eingerichtet. Diese gesamte Vorstellung, man könne dem Staat über Liechtenstein oder die Cayman Islands das entziehen, was ihm zusteht, ist eine Flucht aus der Gemeinsamkeit. Wenn sie also da sind, und doch nicht da sind, wie könnte man sie dann noch bezeichnen? Vielleicht als Schlafwandler an höchster Stelle.

Was bedeutet es denn für eine Gesellschaft, wenn dieser Zusammenhalt zwischen oben und unten fehlt?

Es entwickelt sich eine schwere und langfristig möglicherweise sogar zerstörerische moralische Asymmetrie. Wenn eine Gesellschaft sich soweit auseinander entwickelt, dass wir Verhältnisse haben wie in der Französischen Revolution, wo man sagt: "Lasst sie doch Kuchen essen", und nicht mehr weiß, wie der andere Teil der Gesellschaft lebt, dann gehen der Gesellschaft zwei Dinge verloren: Erstens Vorbilder - jede Gesellschaft funktioniert erst mit Vorbildern - und zweitens Normen. Wenn auf einem so engen Territorium wie der Bundesrepublik Deutschland mit einer so hohen Bevölkerungsdichte solche Probleme offenkundig werden, dann wird es möglicherweise politische Verhältnisse geben, in denen ganz andere sittliche Gebote der Gesellschaft missachtet werden, die nichts mit Geld zu tun haben.

Zum Beispiel?

Es erodieren dann moralisches Verhalten, Hilfsbereitschaft, Gesetzestreue, politisches Interesse ein Gefühl von Fairness. Also alles das, was eine Gesellschaft zusammenhält.

Die SPD hat am Montag eine windelweiche Erklärung abgegeben. Darin heißt es, dass man prüfen müsse, ob man das Strafmaß für Steuersünder anheben könne. Klingt nicht sehr konkret. Also, müssen die Strafen erhöht werden?

Die Strafen müssen nicht erhöht, sondern die existierenden müssten mal konsequent angewandt werden - zumal in Fällen besonderer Habgier.

Der BND ist wegen des Ankaufs einer Daten-CD in die Kritik geraten. Finden sie das Vorgehen der Nachrichtendienst-Mitarbeiter richtig?

Ja. Wenn wir so etwas kritisieren, dann könnte der Staat auch gleich aufhören, mit V-Leuten zu arbeiten, um Verbrechen aufzuklären.

Aber heiligt der Zweck denn alle Mittel?

Das ist mir zu prinzipiell. Mir müsste erst einmal jemand zeigen, wo hier eigentlich Unrechtmäßiges geschehen ist. Jeder Kripobeamte müsste seine Informationssammlung aufgeben, wenn sich diese Haltung durchsetzt - die bekanntlich plötzlich dem Rechtsstaat Liechtenstein so lieb und teuer ist.

Darf man mit Hehlern handeln?

Die Polizei darf das, in gravierenden Fällen, um an relevante Informationen zu kommen. Wenn wir uns einen Staat wünschen, der schwere Verbrechen nur mit "good will" aufklären soll, dann klappt so etwas nicht.

Im Rahmen der Moral-Debatte: Ist die Schwarzarbeit nicht die Steuerflucht des kleinen Mannes? Und ist es dann nicht sehr wohlfeil, wenn man nur auf die Reichen schießt?

Auch Schwarzarbeit muss verhindert werden. Das ist ein moralisch korrektes Argument. Dabei fallen aber zwei politische Argumente unter den Tisch. Zum einen haben Reiche eine Vorbildfunktion, wie das auch Herr Zumwinkel in seiner Hauszeitung geschrieben hat. Zum anderen muss man unterscheiden zwischen dem Geringverdiener, der sein niedriges Einkommen aufbessern muss, und dem Millionär, der unter Umständen gar nicht weiß, wohin er mit seinem Geld soll. Als eine Therapie gegen Schwarzarbeit empfehle ich den Mindestlohn. Der eine ist in Not, weil er vielleicht keinen Arbeitsplatz hat, der andere lebt wie Onkel Dagobert. Schwarzarbeit geschieht nicht selten aus existenziellen Sorgen heraus, Steuerhinterziehung im großen Stil basiert auf einer Todsünde: Habgier.

Es heißt, Sie seien ein typischer Intellektueller. Was war denn das wichtigste Erlebnis für Sie in den letzten Monaten, nachdem Sie in den Wahlkampf eingestiegen sind?

Das waren Erlebnisse mit Menschen, die das Wort "intellektuell" mit allerlei Dingen verbinden, nur nicht mit diesem Klischee. Es waren Gespräche mit ganz normalen Bürgern, die mir von ihren Sorgen erzählt haben, zum Teil war das sehr berührend. Mir ist noch klarer geworden: Es gibt eine soziale Spaltung, und es gibt die Chance, diese Entwicklung aufzuhalten. Die alte, solidarische SPD existiert immer noch. Und ihre Aufgabe bleibt dringlich.

Können Sie sich vorstellen, als Juniorpartner mit Ole von Beust zusammen zu arbeiten?

Ich mache keine Koalitionsaussage. Können wir das am 24. Februar besprechen? Ich hab da immer so ein wunderbares Zitat: "Die bürgerliche Presse kann die Ereignisse nicht abwarten. Das Fernsehen noch weniger". Ich setze auf Sieg.

Und was machen Sie, wenn es am Sonntag nicht für eine Mehrheit reicht?

Dann stehe ich am Montag auf und mache mir erst einmal ein Frühstück. Wir müssten das Ergebnis analysieren. Aber ich werde mich sicherlich nicht vergiften.

Sie gelten als Amerika-Kenner. Mit wem halten Sie es denn dort: Obama oder Clinton?

Obama.

Der verkörpert den Aufbruch, die Jugend. Er ist 46 Jahre alt. Sie sind 66 Jahre alt - und werden bisweilen als "jüngster Hoffnungsträger der Sozialdemokratie" bezeichnet. Wie stehen Sie für Aufbruch?

Ich stehe nicht für das, was Obama verkörpert. Wenn Sie sich mal die Reden anhören, dann sind das meist sehr große amerikanische Rhetorikgemälde. Das kommt in den USA gut an, aber ganz konkrete Aussagen werden Sie bei keinem der übrig geblieben Kandidaten finden. Der Unterschied zwischen einem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf und dem Bürgerschaftswahlkampf ist das Lokale. Die Frage ist, ob wir die Kinderbibliothek am Grindelhof retten können, ob und wie wir neue Stadtwerke aufbauen können gegen die Stromkartelle, oder wann wir endlich eine öffentliche Nahverkehrsverbindung auf der Trasse nach Steilshoop bekommen. Und mit Obama antworte ich: Yes, we can.

Interview: Sebastian Christ und Florian Güßgen