Man könnte verrückt werden. Es wäre nur zu menschlich. Binnen gut einer Woche haben uns Nachrichten aus Nizza, Istanbul, Würzburg und München mit dem Vorschlaghammer getroffen. So unterschiedlich die Motive und Ereignisse sein mögen: Die Welt wackelt an allen Ecken und Enden. Die Angst, nicht und nirgendwo sicher zu sein – das ist Terror, das ist die Definition von Terror. Man könnte verrückt werden in diesen sogenannten "interessanten" Zeiten. Aber es wäre der größte Fehler, den wir machen können.
"Ist 2016 das schlimmste Jahr des 21. Jahrhunderts?", fragt der "Spiegel" in seiner aktuellen Ausgabe. Die Antwort muss lauten: Mindestens gefühlt, angesichts kleiner Unfassbarkeiten wie den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und großer Katastrophen wie die von Nizza bis Kabul. Niemand weiß, was als nächstes passiert, ob nicht alles noch viel schlimmer wird. Die Schockwellen der Informationen, hervorgerufen durch den geopolitischen Irrsinn der Gegenwart, brechen an unserer empfindlichsten Stelle: dem tief empfundenen Gefühl der Sicherheit, mit dem wir einst aufgewachsen sind. Sie verbreiten eine konstant unterschwellige Unruhe. Was die anrichtet, das war in München deutlich zu beobachten.
München: Die Fehlalarme hielten sich hartnäckig
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Im Ausnahmezustand hat München viel richtig gemacht – die Polizei mit ihrem besonnenen, gewissenhaften Verhalten, die Bürger mit Hilfsbereitschaft und #offenetür. Aber wie übersensibilisiert wir inzwischen sind, zeigen die zahllosen Fehlalarme und Falschmeldungen, die im Laufe des Abends die Runde machten – von Schießereien am Stachus, dem Odeonsplatz und dem Tollwood-Festival war die Rede, von bis zu drei Tätern mit "Langwaffen". Einige dieser Schreckensnachrichten hielten sich hartnäckig.
In Zeiten, in denen Informationsmenge und Informationszeitpunkt nicht mehr von der Polizei bestimmt werden, tragen wir alle mehr Verantwortung als noch vor einigen Jahren: Wir, das sind alle Menschen, die sich über die sozialen Medien mitteilen oder den Ordnungskräften unsere Beobachtungen melden – irgendwoher sind die Notrufe aus dem ganzen Münchner Stadtgebiet schließlich gekommen. Die Polizei hat sie sicher nicht erfunden. Von Idioten, die heute Informationen über einen geplanten Anschlag am Stachus in München verbreiteten, wollen wir hier gar nicht erst reden. Via Twitter reagierte die Polizei entsprechend scharf: "Mieses Spiel mit der Angst! Personen, die solche Gerüchte in die Welt setzen, dürfen sich schon mal warm anziehen."
Aber auch wir, die Medien, müssen wieder mit mehr Besonnenheit agieren. Bei jedem Anschlag, Attentat, Amoklauf greifen stets dieselben Mechanismen: ob body count, Täterbeschreibung oder Augenzeugenberichte – alles ein Wettlauf um die schnellste Schlagzeile. Ein Wettlauf, in dem oft ganz offensichtlich die Sorgfaltspflicht abhanden kommt. Krisenjournalismus darf kein hastiger 100-Meter-Lauf sein, sondern ausdauernde, verantwortungsbewusste Langstrecke. Manchmal geht es dabei auch um Zwischentöne: Warum heißt es ständig überall, dass es bisher keinen Hinweis auf einen islamistischen Hintergrund gebe. Das kleine Wörtchen bisher suggeriert, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich das ändere. So wird Stimmung geschürt. Und es ist nur ein Beispiel von vielen.
Wir müssen wieder mehr Verantwortung übernehmen
Die Wechselwirkung, die durch die völlig veränderte Medienlandschaft unserer Tage zu beobachten ist, geht uns alle an: Die klassischen Medien, aber auch die Politik, sind gefordert, sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren – Informationen einzuordnen und mit der angemessenen Dringlichkeit zu verbreiten. Aber auch der Empfänger trägt Verantwortung, indem er nicht jede Verschwörungstheorie, jede Lüge und jedes Gerücht glaubt und flugs bei Facebook teilt.
Es ist leichter gesagt als getan – aber wir dürfen jetzt nicht verrückt werden vor Angst. Wir müssen Verantwortung für die Gesellschaft, in der wir leben (wollen), übernehmen. Wir müssen kämpfen für die Werte, die uns in ruhigeren Zeiten einst vermittelt worden sind. Und wir müssen wieder ein bisschen mehr daran glauben, dass jeder von uns seinen Teil dazu beitragen kann. Utopisch ist nur, was wir uns nicht vorstellen können. Und sicher ist in diesen Zeiten nur eins: Hysterie hilft nie.