Müntefering Das neue Leben des Franz M.

Er war Vizekanzler, der mächtige Mann der SPD. Als seine Frau schwer an Krebs erkrankte, trat er zurück. Jetzt ist Franz Müntefering ihr "Oberpfleger". Eine Begegnung mit dem Aussteiger des Jahres.

Er ist dann mal weg. Und er vermittelt nicht den Eindruck, als würde ihm irgendetwas oder irgendjemand fehlen: der Dienstwagen, das riesige Büro, die Aktentaschenträger und Umihnherumwusler. Angela Beck. Sein altes Dasein. Allein die rote Anstecknadel aus dem Wahlkampf von 1972, die trägt er wie immer im linken Revers seines Anzugs - wenn er überhaupt mal Anzug trägt. Denn Franz Müntefering, 67, hat inzwischen eine andere Rolle, eine andere Aufgabe. Er ist jetzt der "Oberpfleger". So nennen sie ihn in der Familie. Oberpfleger Franz setzt seiner Frau Ankepetra die Spritzen, sortiert und verabreicht die Tabletten, ein Dutzend verschiedene am Tag, hegt und pflegt sie und hilft ihr. Einiges fällt ihr unendlich schwer nach ihrer Operation: gehen, lesen, sprechen ... Vor allem aber ist er da, rund um die Uhr, um ihr die "unglaublichen Strapazen" erträglicher zu machen, so weit das geht.

Das ist jetzt das Wichtigste für ihn. Franz Müntefering, Vizekanzler a. D., Arbeitsminister a. D., macht für seine Frau, was üblicherweise Frauen für ihre Männer machen: Er kümmert sich. Krempelt sein Leben dafür um. Wenn er eine Aufgabe schultert, dann ganz oder gar nicht. In diesem Sinn ist er der Aussteiger des Jahres.

"Wenn man alt werden will, darf man kein Feigling sein", hat ihm einer geschrieben. Tausende Briefe und Mails hat er erhalten nach seinem überraschenden Rückzug am 13. November. Viele gaben Tipps weit jenseits der Schulmedizin, wie der Krebs kleinzukriegen sei, bis hin zum Rat, es mit einer Diät-Kombination aus Brokkoli, Möhren und Joghurt zu versuchen - und falls das nicht anschlage, komme man wenigstens in den Himmel. Er hat lange überlegt, ob er ihr das vorlesen soll, hat es dann aber gemacht. Es gibt ja nicht so wahnsinnig viel zu lachen sonst. Am schlimmsten ist die Ungewissheit, das Warten auf den Befund, ob der Tumor gestreut hat, ob die Chirurgen alles erwischt haben. Ob sie noch an Übermorgen denken, darüber reden sollen, wo sie den Sommerurlaub verbringen möchten. Das ganze üble Krebs-Programm eben. Hoffen und Bangen. Im wilden Wechsel.

"Wir bereden immer miteinander, was das Beste für uns ist"

Nur selten traut er sich, mal für ein paar Stunden das Reihenhaus auf dem Brüser Berg in Bonn zu verlassen. Sie haben es vor ein paar Jahren gekauft, als Alterssitz. Es ist ein typisches Müntefering- Haus. Neubauviertel, sachlich, schlicht. Keine Aussicht nach nirgends. 200 Meter Luftlinie östlich braust die A 565, etwas weiter westlich verhunzen die Betonklötze des alten Verteidigungsministeriums die Landschaft.

Man muss es mögen. Aber es liegt hoch genug über dem Rheintal mit seiner stickigschwülen Luft. Und Franz Müntefering hat seine Wohnungen immer so ausgesucht, dass möglichst keine anderen Abgeordneten in der Nähe lebten. Da hält er auf Abstand. Schnaps ist Schnaps. In Berlin logierte das Paar in der Platte, "mitten im Getümmel", bei geöffnetem Fenster lärmte der Verkehr, sie stellten sich einfach vor, es wäre das Rauschen des Meeres. Wenn er nun mal verschwindet für einen Abend, kommt ihre Tochter oder ihr Sohn und die Schwiegertochter; die Kinder leben in Bonn. Auch deshalb sind sie 2006 umgezogen. Da hatte Ankepetra Müntefering gerade den ersten Rückfall hinter sich. 2002 war der Brustkrebs entdeckt worden. Franz Müntefering pendelte zwischen Wahlkampf und Wacht am Krankenbett hin und her, übernachtete oft in der Berliner Charité, hoffte, bangte. Es zehrte an seinen Kräften, aber er ließ sich nichts anmerken. Als seine Frau zur Reha in Buckow war, sah man die beiden manchmal Arm in Arm durch den Park spazieren.

Schon damals überlegten sie, ob er aufhört, aber ein Leben ohne Politik mochten sich beide nicht vorstellen. "Wir besprechen immer miteinander, was das Beste für uns ist." Auch sie hat nach ihrer Genesung wieder im Büro des SPD-Fraktionsgeschäftsführers gearbeitet. Im Mai 2006 kam der Krebs zurück. Es begann eine Tortur: Operation, Chemo, Bestrahlung. Franz Müntefering ließ sich wieder nichts anmerken und knetete bei Veranstaltungen unterm Tisch die Hände, während er routiniert Münte-Sprech produzierte. "Aber irgendwann", sagt er, "kommt die Stelle, wo man sich fragt: Geht das noch so?" Diese Stelle war am Donnerstag, dem 8. November erreicht. Da bekamen sie nach der fünften Operation in sechs Jahren den niederschmetternden Befund: Die golfballgroße Geschwulst, die sie Tage zuvor in der Neurochirurgie der Bonner Uniklinik aus ihrem Kopf geschnitten hatten, bildet Metastasen, ist also bösartig.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Niemand weiß, was kommt

Man kann Franz Müntefering, diesen oft so kantig und karg wirkenden Kerl, nun dabei erwischen, wie er sich verstohlen die Augenwinkel reibt. Er weiß, wie so ein Eingriff verläuft, wie die Schädeldecke angeangehoben und angetackert wird. Er kann darüber sprechen wie übers Mindestarbeitsbedingungsgesetz. Aber er weiß nicht, was danach kommt. Was hilft. Es ist eine schwierige Situation, für jeden, aber noch schwerer erträglich für einen, der es gewohnt ist, dass gemacht wird, was er will.

Das Ausgeliefertsein, die Hilflosigkeit nehmen ihn sichtlich mit. Er sieht oft nicht mehr so kernig, drahtig und unkaputtbar aus, eher wie ein aus dem Nest gepurzelter Vogel. Zart, zerzaust und hilfebedürftig. Es muss eine große, innige Liebe sein, die Ankepetra und Franz Müntefering verbindet. Das Paar heiratete 1995. Für beide war es Ehe Nummer zwei, beide haben aus ihrer ersten Verbindung je zwei Kinder. Sie ist der Mensch, den der sonst eher Verschlossene ("Ich war meistens ein Alleiner") an sich heranlässt. Man muss nur Bilder von dem Paar betrachten, vom Bundespresseball zum Beispiel. Da himmeln sie sich an und turteln wie verliebte Teenager, und Münteferings Gesicht, das Gesicht dieses karstigen Kerls zerfließt und wird ganz weich.

Er ist kein Umarmer und Betütler, aber bei ihr lässt er Nähe zu, sogar öffentlich. Früher, vor dem Krebs, hat sie ihn oft begleitet zu irgendwelchen Auftritten in der sozialdemokratischen Pampa. "Wenn ich in öffentlichen Veranstaltungen bin und sie ist dabei, dann kommt sie nahe, weil sie sich dazwischenwerfen will, falls mich einer angreift", hat er mal erzählt. "Sie macht mich sicherer." Hinterher standen sie an irgendwelchen Stehtischen in kahlen Vorhallen und qualmten, Zigaretten, Zigarillos.

Es umgab sie dann eine Aura der absoluten Zweisamkeit, eine traute Unnahbarkeit. Man mochte da nicht gern stören. Einigen Menschen in Berlin hat er einen kleinen Blick in seine Seele erlaubt, hat Einzelheiten erzählt. Denjenigen, denen er wirklich vertraut natürlich, aber auch Kurt Beck und Angela Merkel. "Unendlich traurig" sei das gewesen, sagte die Kanzlerin hernach im kleinen Kreis. Wenig später, in geselliger Abendrunde mit CDU-Frauen, sagte sie dann, dass sie Müntefering schon lange nicht mehr getraut habe. Der habe sie beim Mindestlohn gelinkt, mehrfach. Müntefering regt das nicht auf. Nicht mehr. "Das hat sie nicht beherrscht", hat er nur mal zu Genossen gesagt. "Das Ding ist gepflanzt. Der Mindestlohn kommt." Es ist sein politisches Vermächtnis.

Auch Kurt Beck hat er etwas hinterlassen: das Gefühl der Freiheit. Der Parteichef, der sich neben Müntefering immer "physisch unwohl" gefühlt habe, blühe nun richtig auf, beobachten sie im SPD-Vorstand. Er sei jetzt die unumstrittene Nummer eins. Keine Widerreden mehr beim Arbeitslosengeld und keine Vorführungen. Dabei kann man sich gut ausmalen, was Müntefering von Becks Vorschlag hält, ins Grundgesetz nun auch noch Kinderrechte hineinzuschreiben. Eigentlich steht ja alles drin in den ersten 20 Artikeln. Eine Art Katechismus. Die modernen Gebote. Klare, gerade Sätze. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Münte-Sätze. Unmissverständlich. Mehr braucht es nicht. So denkt er. Vor zwei Monaten hätte er es auch noch gesagt, halblaut wenigstens.

Im Frühjahr will er wieder mitmischen

Aber jetzt ist er mal weg. Sicher, manchmal juckt es ihn, einen Rat im Arbeitsministerium anzubringen - aber bisher konnte er sich beherrschen. Außerdem ist er gut beschäftigt. Er räumt die Kisten aus und auf, die er seit Jahren mit sich rumgeschleppt hat, sichert die Bücher vor dem sieben Monate alten Enkel und liest sich begeistert durch Rüdiger Safranskis Studie über "Romantik. Eine deutsche Affäre". "Wenn die Sonne wieder richtig scheint" im Frühjahr, will er wieder etwas stärker mitmischen in Berlin. Er meint das nicht so sehr meteorologisch. Es ist einer dieser Sätze, mit denen man sich selbst Mut macht - oder etwas vorgaukelt. Alles wird gut. Seinen Sitz im Bundestag hat er behalten, das Ministerbüro getauscht gegen eine Abgeordnetenbutze, die halb so groß ist wie früher sein Sekretariat. Unter den Linden 50, Zimmer 4077, neben der Arbeitsgruppe für Entwicklungshilfe, Blick auf einen schäbigen Parkplatz. Es stört ihn nicht. Die Insignien der Macht waren ihm nie wichtig, die Macht war ihm wichtig. Demnächst darf er umziehen hinauf in die fünfte Etage, Vorderseite. Dann guckt er auf die Russische Botschaft - wie Altkanzler Gerhard Schröder, der im vierten Stock eine Büroflucht belegt.

Gelegentlich tritt er ja auch noch auf. Dann sitzt Franz Müntefering im Anzug mit roter Anstecknadel in der Grundschule Brüser Berg, umringt von gebannten Sechs- und Siebenjährigen, und liest. Liest, was er am Vorabend gemeinsam mit seiner Frau ausgesucht und erst einmal ihr vorgelesen hat: Edith Nesbits Geschichte "Billy der König". Franz Müntefering liest also: "'Du bist wirklich das tapferste und tüchtigste Mädchen auf der Welt. Heiratest du mich, wenn wir hier heil wieder herauskommen? So eine wie dich gibt's nicht noch einmal. Sag doch Ja!' 'Natürlich', antwortete Elisabeth, die immer noch Sirup spuckte, 'so einen wie dich gibt's ja auch nicht wieder.' 'Na gut! Wenn es so ist, dann übernimm du bitte das Steuer, und ich segle. Gemeinsam werden wir mit dem Biest schon fertig werden', sagte Billy."

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