Herr von Weizsäcker, Sie haben vor Jahren die Parteien als "machtversessen und machtvergessen" kritisiert. Hat sich an dieser Einschätzung etwas geändert?
Kaum! Wir haben schwere Probleme zu lösen. Jeder weiß das. Um sie zu lösen, muss um das Mandat einer Mehrheit gekämpft werden, das ist völlig legitim. Doch dann verkommen die Problemlösungsvorschläge zu blassen Instrumenten im Machtkampf. Geht es aber nur noch um die Macht, spricht keine Partei gern offen wirkliche Probleme an. Das hat sich im letzten Wahlkampf gezeigt: Keine der beiden Seiten hat sich getraut, notwendige Grausamkeiten beim Namen zu nennen. Dadurch schwindet das Zutrauen der Bevölkerung in die Politik.
Ist die Politikverdrossenheit der Bürger Besorgnis erregend?
Es gibt eine große Verärgerung. Dennoch sind die meisten Bürger sehr vernünftig, sie urteilen viel besonnener, als man das glauben könnte, wenn man die Auseinandersetzung ihrer gewählten Vertreter oder große Medienkampagnen verfolgt.
Halten Sie die Darstellung der Lage in den Medien für überzogen?
In einem Teil der Medien hat ein Krawallkurs angehoben, als ob unser Land am Abgrund stünde. Das ist absurd und verantwortungslos.
Zum ersten Mal soll, auf Betreiben der Opposition, ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss den Vorwurf des vorsätzlichen Wahlbetrugs klären. Wer hat da betrogen? Nur die Regierung?
Solche Vorwürfe sind so alt wie unsere Parteiendemokratie. Adenauer, ein wahrhaft historischer Regierungschef, sprach in einem Wahlkampf davon, es wäre der Untergang Deutschlands, wenn die Opposition gewinnen würde. Helmut Schmidt, ein großer Bundeskanzler, wurde, kaum dass er eine Wahl gewonnen hatte, des Rentenbetrugs geziehen. Heute klagen sich Parteien gegenseitig der Unwahrhaftigkeit in einem Wahlkampf an, dessen Hauptunwahrhaftigkeit darin bestand, dass man auf allen Seiten mehr um die Macht als um die Einsicht in die Probleme diskutiert hat.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Halten Sie den Ausschuss für richtig?
Was soll herauskommen? Angriff, Gegenangriff, gegenseitige Schmutzladungen. Geschädigt ist am Ende das Ansehen der Parteien. Die Einsetzung des Ausschusses ist die Fortsetzung des Wahlkampfes.
Ist es noch mit Wahlkampf zu entschuldigen, wenn Politiker Erkenntnisse, die sie haben, bestreiten?
Die ganze Kunst der Politik besteht darin, das langfristig Notwendige kurzfristig mehrheitsfähig zu machen. Wie schwer das ist, sieht man an den vielen Verwöhn-Wahlkämpfen, die die Parteien für den einfachsten Weg halten. Aber mit der Lüge ist es in der Politik nicht so einfach wie in der Kindererziehung: In der Darstellung der politischen Kassenlage zum Beispiel ist die Lüge nur schwer eindeutig zu ermitteln. Im Übrigen hat die Demokratie doch die Mittel, die sie braucht: Hat sich ein Politiker erkennbar zu weit von der Wahrheit entfernt, wird er bestraft - bei der nächsten Wahl durch die Bevölkerung, aber doch nicht durch einen Quasi-Richter im Parlament, wie es der Untersuchungsausschuss ist.
Kennen Sie den Kanzler-Song?
Nein.
Sie haben aber davon gelesen.
Überschriften.
Das Lied, das den Kanzler verulkt, steht in den Hitparaden auf Platz eins. Ist die Politik im Moment nur mit Witz zu ertragen?
Davon ist gar keine Rede! Natürlich darf man lachen - wohl dem, der es kann! Aber wir sind keine Spaßgesellschaft. Mit der Wahl erteilen wir den Auftrag zu mutiger Führung.
Was muss sich ändern in diesem Land?
Man kann nicht alte Mechanismen, die einmal sinnvoll waren, unangetastet lassen, wenn sich die Voraussetzungen verändert haben. Mit der Arbeitslosigkeit sind wir seit längerer Zeit nicht vorangekommen. Dass ein Handwerksmeister sich schwer tut, zusätzliche Arbeitnehmer einzustellen, ist doch verständlich. Die Löhne sind hoch, die Lohnnebenkosten sind hoch, der Kündigungsschutz ist hoch. Am Ende nimmt er nur noch die Aufträge entgegen, die er selber erledigen kann, weil ihm das andere zu teuer ist - eine typische Folge unseres Verbändestaates mit flächendeckenden Tarifabschlüssen, die nur die Arbeitsplatzbesitzer betreffen. Aber wer vertritt die Arbeitslosen?
Und die Sozialsysteme zeigen Risse.
Die demografische Entwicklung ist ein großes Problem. Früher haben drei Arbeitnehmer einen Rentner getragen. Heute sind es zwei. Wer weiß, wie lange es noch dauert, dass von einem Mann Ihrer jugendlichen Generation erwartet wird, so jemanden wie mich zu bezahlen. Das kann nicht akzeptabel sein.
Was müsste passieren?
Es hat in der letzten Legislaturperiode mit der Riester-Rente einen, wenn auch zu schüchternen, Reformversuch in die richtige Richtung gegeben. Noch klappt sie nicht richtig. Sie ist nicht gut propagiert, und sie ist zu bürokratisiert, wie das immer so ist in Deutschland.
Muss die Finanzierung der Sozialsysteme umgestellt werden von der Beitragsfinanzierung, die an die Arbeit geknüpft ist, auf Steuerfinanzierung, um die Arbeitskosten zu senken?
Ja, ich halte eine durch Steuern finanzierte Grundversorgung kombiniert mit Eigenvorsorge für notwendig. Wir müssen Abschied nehmen von den Zeiten, als es durch ständiges Wachstum immer etwas zu verteilen gab. Aus allem, was verteilt wurde, entstanden Besitzansprüche, die rechtlich abgesichert wurden. Die großen Verbände sorgen dafür, dass das so bleibt. Wenn wir damit aber unverändert weitermachen, leben wir - je länger, desto mehr - über unsere Verhältnisse.
Haben Sie den Eindruck, dass die Bundesregierung die nötigen Reformen anpackt?
Das ist noch nicht klar zu erkennen. Die Regierung hat alles mögliche Einzelne rasch in Gang gesetzt, dann aber wegen einiger Widerstände immer wieder Korrekturen vorgenommen. Auf das, was am Anfang stehen soll, die Generalübersicht über die Lage, warten wir immer noch.
Braucht es eine Ruck-Rede des Kanzlers?
"Ruck" ist ein bequemes Schlagwort, von dem sich niemand angesprochen zu fühlen braucht - was übrigens der Erfinder von Ruck-Reden, mein Nachfolger im Amt des Bundespräsidenten, Roman Herzog, auch selber zugegeben hat. Erst muss mal die klare Übersicht kommen, dann hat man es auch leichter, mit unbequemen Einzelheiten voranzumarschieren.
Muss sich die Politik von der Vorstellung verabschieden, dass sie Reformen im Konsens mit den großen Interessengruppen vollziehen kann? Auch in der Rürup-Kommission, die sich mit dem maroden Gesundheitswesen beschäftigen soll, sitzen Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei.
Dass dort die Verbände mit am Tisch sitzen, sehe ich noch nicht als Problem. Aber man darf natürlich nicht den Bock zum Gärtner machen. Rürup weiß ziemlich genau, was notwendig ist. Zum Ärger seiner Auftraggeber hat er das ja auch mehr als einmal öffentlich ausgesprochen. Dass die Kommission jetzt noch ein ganzes Jahr tagen soll, um das auf einen Begriff zu bringen, heißt, unnötig Zeit zu vergeuden.
Die Kommission zur Reform der Bundeswehr, deren Chef Sie waren, hat vor zwei Jahren ihren Bericht abgeliefert - passiert ist nichts.
Die Empfehlungen meiner Kommission sind in der Tat bisher deutlich zu wenig umgesetzt worden. Es geht nicht an, dass die Waffen älter sind als die Soldaten, die sie benutzen sollen. Die Veränderung militärischer Einsätze erfordert weniger Man-Power und mehr modernisierte Waffen. Zu all diesen Punkten haben wir Vorschläge gemacht, die unverändert...
...ihrer Umsetzung harren...
...einer Anschubfinanzierung bedürfen und auch Mut erfordern. Wenn man das Personal mindert, steht jeder Verteidigungsminister vor demselben Problem: Aus jedem Wahlkreis meldet sich ein Abgeordneter, der sagt, bei mir darf kein Standort geschlossen werden.
Alle Reformen müssen durch den Bundesrat. Haben die Länder zu viel Macht?
Wir befinden uns gegenwärtig in einer interessanten Phase, dass einige Bundesländer verschiedener Parteicouleur den Wunsch nach partieller eigener Steuerhoheit äußern. Ich würde es begrüßen, wenn die Länder über eigene Einnahmen beschließen und auf diese Weise auch im Bundesrat das tun könnten, wozu die Länderkammer geschaffen ist, nämlich dort ihre eigenen Interessen zu vertreten, anstatt ihn zum Forum des nationalen Parteilager-Krieges zu pervertieren.
Das würde eine große Reform des Verhältnisses zwischen Bundestag und Bundesrat, zwischen Bund und Ländern bedeuten.
Weniger Zustimmungspflicht und -recht der Länder zur Bundesgesetzgebung und mehr Steuerhoheit für die Länder - das ist letzten Endes die Idee, nach der unsere Verfassung den Bundesrat konzipiert hat. Aber er ist seit Jahr und Tag zu den großen nationalen Wahlkämpfen benutzt worden. Das hat Kohl so gemacht und Lafontaine und Schröder. Alle sind sie als Ministerpräsidenten aus ihren Bundesländern im Bundestag aufgetreten, um das Kanzleramt zu erringen. Im letzten Wahlkampf war es genauso.
Gibt es zu viele Wahltermine?
Die Wahltermine zu bündeln, wäre vernünftig. Wahlkämpfe werden sehr stark über das Fernsehen vermittelt. Die Hauptträger des Wahlkampfes sind die Leute, die man im Fernsehen sofort erkennt, ohne dass darunter steht, wer das ist. Das sind halt nicht sehr viele. Also sind diese paar Leute völlig damit überanstrengt zu werben, statt ihren Amtsaufträgen nachzugehen.
Das Interesse der Bevölkerung an Politik ist größer als oft angenommen. Bei der Online-Umfrage "Perspektive Deutschland 2002" haben schon 230000 Menschen ihre Meinung gesagt. Sie haben die Schirmherrschaft übernommen. Warum ist Ihnen das Projekt so wichtig?
Weil ich davon überzeugt bin, dass, entgegen allen möglichen pessimistischen Stimmen, sowohl die Leistungsbereitschaft wie auch die Fähigkeit und der Wille zur Eigenverantwortung stark verbreitet sind. Jetzt wollen wir herausfinden, was die Menschen über Parteien und Gewerkschaften, über die Bundeswehr, die Polizei, das Arbeitsamt oder die Kirchen denken. Ich denke, es wird sich zeigen, dass die Menschen mutigeres Handeln erwarten, als die Parteien das sich und ihrer Wählerschaft zutrauen.
Dieser Bundestag ist der jüngste, den es je gegeben hat. Die jüngste Abgeordnete ist 19 Jahre alt, eine Abgeordnete der Grünen. Kann man mit 19 Politik machen?
Man ist weder mit 19 noch mit 82 davor gefeit, dumme Politik zu machen - oder gute. Ich finde gut, dass die verschiedenen Teile der Gesellschaft im Parlament angemessen zur Sprache kommen. Deswegen ist es sehr gut, wenn auch ganz junge Leute in den Bundestag kommen - oder Selbstständige. Die Anzahl der Abgeordneten, die abgesichert sind durch Staat oder Verbände, ist im Vergleich zu den Unabhängigen zweifellos zu groß. Das Mandat in den Parlamenten hat sich auf bedenkliche Weise zu einem Berufspolitikertum entwickelt. Man beginnt in seiner Ortspartei und kümmert sich primär darum, als Kandidat für die nächste Wahl aufgestellt zu werden. Kaum ist man im Parlament, nicht mal 40 Jahre alt, ist schon die nächste Generation von Anwärtern für das Berufspolitikertum herangewachsen, und man wird von 25-Jährigen bei der nächsten Kandidatenaufstellung an die Luft gesetzt. Auf diese Weise verjüngt sich das Parlament immer mehr, während der Erfahrungsbestand sinkt.
Die Parteibindung der Wähler hat weiter stark nachgelassen. Jürgen Möllemann hat jetzt angedroht, dass er eine neue liberale Partei gründet, falls er aus der FDP ausgeschlossen wird. Könnte das der Beginn einer Verschiebung im Parteiensystem sein?
Jedenfalls nicht in einer radikalen Richtung. Ich glaube, dass unser Land gegenüber radikalen Verführern immuner ist als andere Demokratien. Warum soll sich das plötzlich ändern? Die Bevölkerung ist vernünftig.
Wie beurteilen Sie den Zustand der Union, der CDU/CSU? Ist sie politisch auf der Höhe, oder wo muss sie sich verändern?
Leicht ironisch sagte Wolfgang Schäuble nach der Wahl: Wir haben verloren, wir haben es leichter, wir sind guter Laune. Mit anderen Worten: Wer ehrlich ist, weiß, dass es gegenwärtig alle ziemlich schwer haben. Je weniger Schimpfkanonade und Blockade, je mehr alternative Vorschläge, desto besser für die Union. Behutsamer Ausdruck empfiehlt sich auf allen Seiten. Wenn zum Beispiel einer - bei aller Bedeutung des Konfliktes zwischen Familie und Beruf für junge Frauen - von einer "Lufthoheit über Kinderbetten" spricht (SPD-Generalsekretär Olaf Scholz, d. Red.), gebührt ihm ein Erholungsurlaub in frischer Luft.
Wenn Sie nach vorn schauen, ins Jahr 2003: Wird das eher ein Reformjahr oder ein schwieriges, holpriges Krisenjahr?
Wenn Parteien, Verbände und auch Medien so gut werden, wie es die meisten Bürger sind, wird es wieder aufwärts gehen.