Rügen Der stille Tod der Schwäne

Auf Rügen, der Ferieninsel, tobt H5N1, das Vogelgrippevirus. Die zuständige Landrätin Kassner wollte lange nicht von einer Katastrophe sprechen - zu lange.
Eine Reportage von Lutz Hofmann

Es mag nicht hell werden an diesem Freitagmorgen auf Rügen. Fünfzig, hundert Meter Sicht, bestenfalls. Rechts der Breetzer Bodden, links der Rassower Strom. 150 Quadratkilometer Boddengewässer unter brüchigem Eis. Ein paar Augenblicke später schält sich die Fähre aus dem Nebel. Sie bringt ein paar PKW von der Halbinsel Wittow auf die Rügener Landmasse. "Im Sommer", sagt der rotgesichtige Fährmann, "ist hier richtig Betrieb." Auf einer Eisscholle neben dem Anleger hockt ein Schwan. Hellbraunes Gefieder, ein Jungtier, noch kein Jahr alt. Ein majestätischer, weißer Höckerschwan wird er nie werden. Ihm ist etwas dazwischen gekommen: ein Virus, H5N1, Typ Asia, hochpathogen. Zehn Meter weiter, direkt am Ufer, dümpeln eine Wildgans und zwei Schwäne im Eisschlamm. Weiter draußen liegen weitere Wasservögel auf dem Eis. Sie alle haben es schon hinter sich. Das Sterben.

50.000 Vögel am Tag

"Scheiß Wetter", flucht ein Kameramann, weil er zum Rauchen immer raus muss aus dem Teamwagen. Seine Kamera lässt er im Wagen. "Bilder von toten Schwänen hab ich genug, wir warten drauf, dass die eingesammelt werden", sagt er. "Den zweiten Tag schon, wie die meisten hier." Nichts weist darauf hin, dass hier zwei tote infizierte Schwäne gefunden wurden. Keine Absperrung, keine Warnung, keine Seuchenmatte. "120.000 Wasservögel hab' ich hier Mitte Januar gezählt", rechnet Dr. Ingolf Stodian vom Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. In einem durchschnittlichen Winter sterben davon ein- bis zweitausend Tiere. Das ist normal. Bisher wurde nicht untersucht, um welche Viren es sich handelte. Eingesammelt wurden sie noch nie. "Das regelt die Natur: Seeadler sitzen dann auf den toten Schwänen, was sie übrig lassen holen sich Möwen, Raben und Krähen." Doch dieses Jahr ist alles anders. "In zwei Wochen beginnt der Vogelzug", warnt Stodian. "Bis zu 120 Arten ziehen hier durch. An manchen Tagen kommen hier bis zu 50.000 Vögel an."

Schwäne in Müllsäcken

Gegen elf Uhr rollen drei Feuerwehrautos auf den Parkplatz an der Wittower Fähre. Die Männer der Berufsfeuerwehr Stralsund machen sich fertig, die toten Tiere zu bergen. "Das hätten wir auch schon gestern machen können, oder vorgestern", sagt Einsatzleiter Jens Riedel. Die Ausrüstung haben sie: Neopren-Trockenanzüge, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel. Nach zwei Stunden haben sie mehrere Dutzend tote Vögel geborgen, Verpackt in blaue Müllsäcke, zugeklebt, verladen auf einen Unimog. Pro Tüte ein Vogel.

Neben dem sterbenden Schwan auf der Eisscholle liegt bereits ein blauer Müllsack. Solange er noch lebt wollten die Männer ihn nicht da rein stopfen. Er ist der letzte hier, für heute. Sie warten mit ihm gemeinsam auf seinen Tod. Zehn Minuten später stirbt der Schwan. Die Männer von der Feuerwehr müssen weiter. An fünf weiteren Stellen sollen noch tote Tiere eingesammelt werden. Hunderte werden es an diesem Tag.

Eine halbe Stunde später gibt sich Rügens Landrätin, Kerstin Kassner (Linkspartei), zuversichtlich: "Wir sind gut aufgestellt und haben die Lage im Griff." Die Zahl der Helfer reiche, noch fehlende Schutzanzüge seien bestellt, versicherte die Landrätin. Mecklenburg-Vorpommerns Agrarminister Till Backhaus (SPD), sieht das anders: "Hätte ich hier die Verantwortung, würde ich den Katastrophenfall ausrufen", so Backhaus. Er spricht von Militärhubschraubern, GPS-Ortung und Bundeswehrsoldaten, "die die toten Vögel dann nur noch einsammeln müssen. Und fertig."

Doch die Verantwortung hat der Landkreis. Und so bleibt Backhaus nichts weiter übrig, als Druck zu machen, so wie er in Berlin Druck bekam, von Bärbel Höhn (Grüne), Guido Westerwelle (FDP) und Horst Seehofer (CSU). Ob Landrätin Kassner ihrerseits den Druck weiterleitet, ist unklar. Der Amtsleiter Rügen-Nord, Karl-Heinz Walther, weist jede Kritik von sich. Fehlerhaft sei nicht gearbeitet worden, doch die Lage am Fundort der Tiere sei kompliziert: "Unwegsames Gelände, Steilküste, Eis." Und Desinfektionsmittel wäre auch schon bestellt worden, in der örtlichen Apotheke.

Eines scheint klar: Fast jeder auf Rügen lebt vom Tourismus oder der Landwirtschaft. Eine H5N1-Epidemie passt da nicht ins Bild. So mag Landrätin Kassner auch nicht von einer Katastrophe sprechen. Als sie mit Till Backhaus vor die Kameras an der Wittower Fähre tritt, haben die beiden auch große Mühe, nicht aufeinander los zu gehen. Kassner bleibt hart: "Ein Katastrophenfall ist das hier nicht. Erst wenn Menschenleben in Gefahr sind, oder lebenswichtige Güter nicht mehr geliefert werden können, haben wir es mit einer Katastrophe zu tun. Alles hier klappt reibungslos." Zwei Stunden später, gegen 17.30 Uhr, lässt sie hier eine Seuchenmatte vom THW Rügen auf die Straße legen. Minister Seehofer hat sich angesagt, für den nächsten Morgen.

"Alle eingesammelt"

Horst Seehofer schaut sehr besorgt, am Samstag gegen neun Uhr. Warum das Gebiet nicht abgesperrt sei, fragt er, und ob alle toten Vögel eingesammelt worden wären. Landwirtschaftsminister Backhaus moderiert den Pressetermin für den Bundesminister an der Wittower Fähre: "Die toten Tiere sind alle eingesammelt, wie Sie sehen." Seehofer sieht nur Fernsehkameras und blitzende Fotoapparate. Sonst nichts. Nicht die 45 toten Vögel, die in der Nacht hier gestorben sind. Vielleicht die Feuerwehrleute, die sich gegenseitig dekontaminieren. Landrätin Kassner sagt gar nichts mehr, schaut zerknirscht und überarbeitet. Auf der Eisscholle hat sich wieder ein kranker Höckerschwan niedergelassen. Auch er ist der Letzte für heute. Doch als die Politiker weg sind, wird er vom Eis geholt und von einer Tierärztin erlöst. Eine gewisse Routine hat sich entwickelt im Umgang mit der Katastrophe. Dass es eine ist, hat auch Landrätin Kassner begriffen. Am Sonntag Abend rief sie den Katastrophenfall aus. Nachdem auch zwei infizierte Vögel in Mecklenburg-Vorpommern gefunden wurden, riefen die Landkreise Nord- und Ostvorpommern am Montag den Katastrophenfall aus. In der antiken Mythologie soll ein Schwan vor seinem Tod noch einmal wunderschön singen. Den Schwanengesang gibt es auf Rügen nicht. Hier wird lautlos gestorben.

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