Schnauze Wessi! Gandhi, Gauck, Grass

  • von Holger Witzel
Sie waren nicht gern bei der Waffen-SS oder haben zu DDR-Zeiten auch mal die Faust in der Tasche geballt? Das sind beste Voraussetzungen für Karrieren als Ex-Bürgerrechtler. Eine Berufsberatung.

Viele Jahre konnte man Westdeutsche wunderbar damit ärgern, wenn man immer noch unverblümt anders war oder wenigstens so tat - und seine "Diktatur-Erfahrung" wie einen unteilbaren Schatz vor sich hertrug. Was die einen gern "Identität" nannten, war den anderen nie ganz geheuer. Sie benutzten deshalb - oft mit hochgezogener Augenbraue - lieber das Wort "Befindlichkeit" und ermahnten allzu selbstbewusste Besserwisser aus dem Osten zunehmend gereizt, dass dies nun langsam wirklich keine Rolle mehr spielen sollte. Bis sie genau so einen und - damit nicht genug - auch noch genau deshalb zum Präsidenten wählten.

Seitdem gilt es plötzlich nicht mehr als ewig gestrig, die eigene DDR-Biografie zu betonen. Umbruchs- und - immer daran denken! - "Diktatur-Erfahrungen" sind gefragt wie nie und beflügeln unerwartete Karrieren. Selbst mich lädt man neuerdings ständig ein, Westdeutschen die sogenannten Leviten zu lesen. Mag sein, das liegt nur daran, weil ihr ehemaliger Lieblings-Leviten-Leser plötzlich echten Leviten seine verschwiemelte Leviten-Lyrik vorträgt und überall ausgeladen wird oder der ehemalige Lieblings-Bürgerrechtler nicht mehr so viel Zeit für Lesungen hat. Jedenfalls kann ich allen ostdeutschen Landsleuten - sofern sie nicht gerade aus Danzig stammen und überhaupt noch irgendwelche beruflichen Ambitionen haben - nur raten, den Trumpf der "Diktatur-Erfahrung" beim Arbeitsamt, in Bewerbungen oder auch beim Flirt mit der Quoten-Chefin aus dem Westen wieder öfter zu spielen.

Mal einen Honecker-Witz erzählt?

Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, was man vor 1945 oder 1989 getan oder gelassen hat, sondern vielmehr auf das, was man heute daraus macht: Haben Sie auch mal einen Honecker-Witz erzählt? Behalten Sie das bloß nicht länger für sich! Wurden Sie unfreiwillig zur Waffen-SS oder den Jungpionieren eingezogen - beantragen Sie eine Opferrente! Waren Sie Punker im Dritten Reich oder hatten als Grenzsoldat immer vor, im Zweifel daneben zu schießen - lassen Sie sich für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen! Fall Sie sich Weihnachten sogar mal in eine Kirche geschlichen haben - erzählen Sie in Talkshows unbedingt von der Todesangst, Sie hätten andere SED-Genossen treffen können!

Alles, was Menschen ohne "Dikatur-Erfahrung" normal, grotesk oder im Detail - um so besser! - unverständlich finden, zeichnet Sie im Rückblick als heimlichen Widerstandskämpfer aus. Sie bringen aus totalitären Unrechtstaaten praktisch von Haus aus mit, was man im totalen Rechtsstaat händeringend sucht: Ob Mut oder Demut, angepasste Unangepasstheit oder integere Integrationsleistung - ähnlich wie der oft gelobte Merkel-Pragmatismus sind das im Westen offenbar derart exotische Eigenschaften, dass es jeder mit seinem individuellen Päckchen aus FDJ-, HJ- und - richtig! - "Diktatur-Erfahrung" - sehr weit bringen kann, wenn er ein paar Regeln beachtet:

Widerstand ist nicht, Widerstand wird

Streifen Sie zuerst Ihre Vergangenheits-Komplexe ab und setzen Sie sich möglichst öffentlich damit auseinander! Sagen Sie, was Sie denken - das finden Westdeutsche "erfrischend". Denken Sie außerdem, was Sie sagen - das halten sie für "glaubwürdig". Sagen Sie Sätze wie: "Widerstand ist nicht, Widerstand wird." Das hört sich in ihren Ohren wie "Klartext" an. Sprechen sie aus, "was gesagt werden muss", aber protestieren Sie auch als alter Protestant nie lauter als zu DDR-Zeiten.

Heute wie damals sind klare Bekenntnisse zu den herrschenden Bedingungen gefragt. Legen Sie deshalb stets Wert darauf, ein "ehemaliger Bürgerrechtler" genannt zu werden, denn aktive braucht ein bürgerlicher Rechtsstaat selbstredend nicht. Ohne Zusätze wie "Ex" oder "früherer" gelten Sie auch im Westen schnell als Querulant. Am Besten kommt an, wenn Sie Ihr politisches Coming-Out erst nach 1945 hatten und auch aus der Zeit vor 1989 keine großen Heldentaten bekannt sind, die zu einem Umsturz hätten führen können. Distanzieren sie sich vorsichtshalber deutlich von "albernen" Nachahmern wie der sogenannten Occupy-Bewegung, Harz-IV- oder Stuttgart-21-Gegnern.

Nobelpreis im zweiten Anlauf

Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn ausgerechnet Ihre eigenen Landsleute nicht so laut jubeln wie Menschen ohne "Diktatur-Erfahrung". Womöglich werden sogar ein paar ewige Dissidenten meckern, dass Sie gar kein echter Ex-Bürgerrechtler sind, weil Sie nie im Knast saßen oder sich trotz staatlicher Schikane zu oft rasiert haben. Denken Sie immer an die glatte Haut von Gandhi oder zu Guttenberg. Als ehemaliger Bürgerrechtler müssen Sie sich weder rechtfertigen noch Doktorarbeiten verteidigen. Es ist nur ein Ehrentitel - von Westdeutschen verliehen. Wer will ihnen ohne entsprechende Karteikarte heute das Gegenteil beweisen?

Ärgern Sie sich nicht, wenn es mit höheren Ämtern oder Nobelpreisen nicht gleich im ersten Anlauf klappt! Zweite Wahl zu sein sind Sie gewöhnt, es ist Ihr Vorteil. Konzentrieren Sie sich auf ein Thema wie "Freiheit" oder "Schuld", damit Sie sich in Reden und Gedichten nicht verzetteln. Falls man das kritisiert, erwähnen Sie auch mal alle anderen, Gewerkschafter, Alt-68er, Migranten - möglichst große Gruppen. Nur "nahe und mittlerer Ossis" besser nicht. Der Westen wird Sie dafür lieben.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Doppelt meinungsfreie Gesellschaft

Aber Obacht, Fallstricke lauern überall: Stellt man ihnen zum Schein eine ehrenvolle Mitbewerberin in den Weg - seien Sie höflich zu Ihr, sonst haut sie Ihnen später womöglich eine runter! Loben Sie nie den Mut der falschen Leute, selbst wenn Sie sich für Hobbygenetik interessieren! Vermeiden Sie bestimmte Themen besser ganz, auch wenn es in dieser doppelt meinungsfreien Gesellschaft natürlich keine Tabus gibt. Notfalls reden Sie sich - genau! - mit Ihrer "Diktatur-Erfahrung" heraus.

Anfangs mögen Sie Pathos und Parolen peinlich berühren und an alte Zeiten erinnern. Vielleicht ist Personenkult nicht mal das, wovon Sie am Anfang Ihrer Laufbahn träumten. Drücken Sie Ihre gütigen Bürgerrechtleraugen zu! Verwandeln Sie den Makel Ihrer Herkunft in die Mindestvoraussetzung für angestrebte Posten! Häuten Sie sich wie eine Zwiebel, aber sagen Sie nicht zu jedem Thema etwas - es sei denn, was dazu gesagt werden muss: Schnauze Wessi!