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Steuerhinterziehung Das Geld, das uns fehlt

Kita-Plätze bis zum Abwinken? Massive Entlastung von Normalverdienern? Würde jeder Deutsche seine Steuern zahlen, hätte die Gesellschaft ein paar Wünsche frei.
Von Johannes Dudziak und Lutz Kinkel

Brigitte Unger, Wissenschaftlerin am gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Institut, kann auch knappe, harte Sätze formulieren. Zum Beispiel diesen: "Steuerhinterziehung ist Diebstahl an der Allgemeinheit." Unger beschreibt auch, welche Folgen dieser Diebstahl konkret hat. Würden alle Deutschen ihre Steuern korrekt bezahlen, könnte die Regierung damit 80 Prozent der Gesundheitskosten begleichen. Oder die Staatsschulden abtragen - in gerade mal 13 Jahren. Die jährlichen Ausgaben für Hartz-IV, rund 30 Milliarden im Jahr, ließen sich zusätzlich stemmen.

Schöne neue Welt. Leider existiert sie nur auf dem Papier.

Denn: Niemand weiß, wie viele Steuern im Jahr hinterzogen werden. Verlässliche Daten gibt es nicht und kann es nicht geben - Steuerhinterzieher füllen keine Statistikformulare aus, bevor sie mit dem schwarzen Koffer über die Schweizer Grenze fahren. Also basieren sämtliche Zahlen nur auf Schätzungen. Und deren Qualität ist zweifelhaft. "Genauso gut könnte man sich fragen, wie viele Menschen eigentlich täglich zu schnell Autofahren", sagte Horst Höppner, Vorstand des Bonner Instituts für Steuern und Finanzen, der "Süddeutschen Zeitung".

Zwischen 30 und 159 Milliarden

Die Zahlen, die durch die Presse gehen, rangieren von 30 Milliarden bis zu sagenhaften 159 Milliarden Euro Schaden pro Jahr. Bei näherer Betrachtung lassen sich allerdings schon diese beiden Angaben bezweifeln. Die 30 Milliarden hatte der Chef der Steuergewerkschaft, Dieter Ondrazek, in die Welt gesetzt. Er schätzte damit aber allein den Steuerausfall durch Schwarzarbeit. Von 159 Milliarden spricht das "Tax Justice Network", das ein politisches Interesse an der Dramatisierung hat und unter Wissenschaftlern keinen guten Ruf besitzt. Die OECD hat, anders als in vielen Medien dargestellt, keine aktuelle Schätzung veröffentlicht. Das sagte eine Sprecherin des Berliner OECD-Büros auf Rückfrage von stern.de. Brigitte Unger, die Wissenschaftlerin der Böckler-Stiftung, die sich intensiv mit Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Schwarzarbeit auseinandergesetzt hat, beziffert den Gesamtschaden auf 100 Milliarden Euro pro Jahr. Aber auch das bleibt, unterm Strich: eine Schätzung.

Sicher ist, dass der Schaden groß genug ist, um die Politik in Bewegung zu setzen. Aktuell diskutieren SPD und Union über eine Verschärfung der Steuergesetze. Das Instrument der straffreien Selbstanzeige, das zum Beispiel Alice Schwarzer und Uli Hoeneß genutzt haben, könnte begrenzt werden oder ganz wegfallen. Der Zorn der Normalbürger, deren Steuern einfach vom Lohn abgezogen werden, ist groß. "Es ist nicht einsichtig, dass ein Kaufhaus-Dieb mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann, der Diebstahl öffentlicher Gelder aber nicht geahndet wird", sagt Unger stern.de

Hartz-IV-Missbrauch - vergleichsweise gering

Was treibt eigentlich Vermögende dazu, Steuern in großem Stil zu hinterziehen? "Wenn die Einkommensverteilung zu weit auseinander klafft, entsteht eine Gruppe Reicher, die sich nicht mit der Gesellschaft verbunden fühlt", erläutert Unger. Plausibel ist das: Wer Privatschulen, Luxuskarossen und medizinische Versorgung selbst bezahlt, dem kann die öffentliche Infrastruktur egal sein - warum auch dafür noch in die Schatulle greifen? Dass der Staat gleichwohl seit einigen Jahren genauer hinschaut, ist auch nicht zufällig. Die Finanzkrise, sagt Unger, habe die öffentlichen Haushalte so unter Druck gesetzt, dass die Finanzminister begannen, alle Reserven zu mobilisieren. Eine stille Reserve ist das Volumen der jährlichen Steuerhinterziehung. Der Ankauf von Steuer-CDs half, diese aufzudecken - und war deswegen goldrichtig.

Die Skandale, die seither die Öffentlichkeit beschäftigen - von Klaus Zumwinkel über Hoeneß, Schwarzer bis zuletzt Helmut Linssen und Andre Schmitz -, haben zudem einen Perspektivwechsel eingeleitet. Der vom vormaligen FDP-Chef Guido Westerwelle thematisierte Missbrauch von Hartz-IV-Bezügen ("Leistungsloses Einkommen", "spätrömische Dekadenz") erweist sich als weit kleineres Übel als die Steuerhinterziehung. Zumindest das ist mit harten Zahlen nachweisbar. Das Volumen des aufgedeckten Missbrauchs bei Hartz-IV betrug 2011 knapp 60 Millionen Euro. Auf der anderen Seite spülten allein die Selbstanzeigen von Steuersündern seit 2010 rund 3,5 Milliarden Euro in die Staatskassen. Das bedeutet: Der Hartz-IV-Missbrauch richtet nur einen winzigen Bruchteil des Schadens an, den Wohlhabende mit Steuerhinterziehung verursachen.

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