Stundenlang harrten sie aus, die wackeren sieben Demonstranten auf dem Dach des Nordflügels. Sie wollen nicht, dass alles abgerissen wird. Zwischenzeitlich hatten sie Erfolg, die Abrissarbeiten am Stuttgarter Hauptbahnhof stoppten. Doch dann rückte die Polizei mit Spezialkräften an, holte sie einfach vom Dach des Bahnhofs runter. Und jetzt geht der Abriss weiter. Bagger reißen Teile des alten Bahnhofs ein. Stuttgart 21, das Milliardenprojekt, kommt. Zigtausende Menschen demonstrieren, hunderte Polizisten sind auf den Straßen, damit die Lage nicht eskaliert. Was viele der Demonstranten nicht ahnen: Egal, wie viele Menschen sie noch mobilisieren können, egal, wie viele Prominente mitmachen, egal, wie laut sie trommeln - nichts geht mehr. Außer, die Oberen lenken noch ein. Doch das ist so gut wie ausgeschlossen
Entscheidend ist das seit dem 4. September 2009 rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. In der Urteilsbegründung heißt es: "Die Beteiligung der Beklagten am Projekt Stuttgart 21 kann aber jedenfalls deshalb nicht (mehr) zum Gegenstand eines Bürgerentscheids gemacht werden, weil insoweit bereits bindende Gemeinderatsbeschlüsse vorliegen, die zu rechtlich verbindlichen Vereinbarungen geführt haben." Juristendeutsch. Übersetzt heißt das: Die Gegner von Stuttgart 21 waren einfach zu spät dran mit ihrem Protest.
67.000 Unterschriften, die einfach verpufften. "Wir haben geglaubt, dass der Gemeinderat so ein Statement nicht einfach ignoriert", sagt Werner Wölfle, einer der Initiatoren. Genau das passierte aber, genau das ist sinnbildlich für das Projekt: Politiker auf allen Ebenen, die kompromisslos Entscheidungen durchziehen.
Grenzen der direkten Demokratie
Die Sprecherin des Verwaltungsgerichts Stuttgart bestätigt die rechtliche Lage: "Es sind keine direktdemokratischen Wege mehr möglich", sagt sie. Vor neun Jahren seien verbindliche Entscheidungen von allen Beteiligten, insbesondere dem Gemeinderat im Stuttgart, gefällt worden. Auch die Umweltorganisation BUND ist mit einer Klage zum Planfeststellungsbeschluss 2006 vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim gescheitert.
Stuttgart 21 wird also gebaut. Aktuell gehen die Planer von neun Jahren Bauzeit aus, in denen der Bahnhof um 90 Grad gedreht und unter die Erde verlagert wird. Bezüglich der Kosten gehen die Ansichten weit auseinander: Offiziell sind für den Bahnhof 4,1 Milliarden Euro veranschlagt, Kritiker befürchten, dass letztendlich ein zweistelliger Milliardenbetrag zu Buche steht. Seit Februar laufen die Bauarbeiten, im August haben die Abrissarbeiten am alten Bahnhof begonnen.
"Mit dem Abriss ist die Sache faktisch gelaufen", sagt Michael Effler, Vorstandmitglied beim Verein "Mehr Demokratie". Direktdemokratische Verfahren seien an Recht und Gesetz gebunden. "Ein weiterer Versuch würde viel zu lange dauern und wieder für unzulässig erklärt werden" sagt Efler.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Rolle Ministerpräsident Mappus spielt. Und welches Schlupfloch die Gegner noch sehen.
Hoffen auf Mappus
Noch hoffen die Demonstranten, dass sie die Politiker zum Einlenken bewegen können, dass der Druck der Straße groß genug sein wird. Eine vom Gemeinderat initiierte Bürgerbefragung wäre rechtlich kein Problem, wie Experte Efler bestätigt. Werner Wölfle, der im Gemeinderat die Fraktion der Grünen anführt, dämpft die Erwartungen. "Es war für uns immer unvorstellbar, dass die Befürworter des Projekts keinen Zentimeter von ihren Vorstellungen abweichen", sagt er. "Aber anscheinend hat der Bürgermeister Schuster nichts mehr zu verlieren."
Die Situation in Stuttgart selbst ist also festgefahren. Etwas anders sieht die Lage auf Landesebene aus. Im März 2011 wählt Baden-Württemberg einen neuen Landtag, laut aktuellen Umfragen muss Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) um sein Amt bangen. Der grüne Wölfle glaubt, dass Mappus langsam ins Nachdenken kommt. Unterstützung erhält Wölfle von den Bundesgrünen. "Wir setzen darauf, dass die öffentliche Diskussion die Landesregierung in Baden-Württemberg zwingt, das Projekt fallen zu lassen", sagt Parteichef Cem Özdemir stern.de.
Die Regierung rund um Mappus agiert momentan äußerst zurückhaltend. Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) spricht von einer "starken Emotionalisierung." Es sei schwierig, mit Sachargumenten durchzudringen. Ministerpräsident Mappus selbst befindet sich noch im Urlaub. Nur Innenminister Heribert Rech (CDU) lässt sich zu markigen Worten verleiten: "Die Gegner handeln im höchstem Maße unredlich", sagt er.
Ein kleines Schlupfloch exisitiert
Die Gegner sehen seit ein paar Tagen eine neue, wenn auch kleine Chance, Stuttgart 21 doch noch zu stoppen. Einer der Architekten des Projekts, Frei Otto, sprach im stern davon, dass die Notbremse gezogen werden muss. Die Warnung des Architekten besitzt durchaus Gewicht, da er sich jahrelang intensiv mit den Planungen auseinandergesetzt hat. Otto fürchtet, dass der neue Bahnhof überflutet oder aus der Erde hochsteigt. "Ein Bau gefährdet Leib und Leben", sagt der 85-Jährige.
Die Gegner wollen aufgrund dieser Sätze und neu vorliegender Gutachten eventuell ein rechtliches Eilverfahren auf den Weg bringen, dass zu einem Baustopp führt. "Wir prüfen das momentan", sagt Wölfle. So lange die Prüfung läuft, geht der Protest weiter. Die Bürger wollen noch lange nicht aufgeben: Schließlich wird erst im nächsten Jahr damit angefangen, das große Loch für Stuttgart 21 zu buddeln.