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Ursula von der Leyen im Interview "Ich kenne es, vor Wut zu kochen"

Ursula von der Leyen, Familienministerin und siebenfache Mutter, hat viel Kritik einstecken müssen. Mit stern-Autor Tilman Gerwien spricht sie über Wickelvolontariate, "Zensursula", ihr Verhältnis zur CDU - und brüllende Minister.

Frau von der Leyen, Sie machen Politik auf höchster Ebene, haben sieben Kinder, pflegen daheim jetzt auch noch Ihren demenzkranken Vater - ein Hochleistungsleben. Hatten Sie in den vergangenen Jahren nie das Gefühl, etwas zu verpassen?

Verpassen wäre der falsche Ausdruck. Aber: Ich will und muss mit meinen Kräften haushalten, bestimmte Dinge gehen deshalb jetzt nicht: Musik machen, Freunde treffen, reisen. Das akzeptiere ich. Aber ich habe schon manchmal das Gefühl, hart am Anschlag zu arbeiten und zu leben.

Sie haben mal gesagt: "Mein Leben besteht fast ausschließlich aus Arbeit und Kindern."

Das klingt sicher anstrengender, als es ist, das Leben mit Kindern ist ja auch unglaublich prall und voll. Ich habe aber erst lernen müssen, Druck oder politischen Ärger abzuschütteln und umzuschalten in dem Moment, wenn ich daheim die Haustür zuschließe. Ich sage mir dann: "Hör mal, jetzt ist Zeit für die andere Seite, die Politik muss jetzt weg." Telefon aus, ganz wichtig, nicht mehr in die E-Mails gucken, nicht ins Internet, schon gar keine Nachrichten. Psychologen würden dazu vielleicht sagen: aktive Verdrängung. Den Kindern ist es völlig egal, ob ein Gesetz scheitert oder ob du wüst beschimpft wirst. Aber ob wir heute zusammen mit den Ponys unterwegs sind und sie mir erzählen können, was sie bewegt, das ist für sie wichtig.

Ist Ursula von der Leyen eigentlich auch mal schlecht gelaunt, wütend oder überfordert?

Oh, ja! Innerlich vor Wut zu kochen und überfordert zu sein kenne ich natürlich.

Was machen Sie dann?

Da hilft mir zum Beispiel Laufen. Dann halte ich im Kopf die Brandreden, die ich immer schon mal halten wollte, und dann ist der Frust weg.

Wie fühlen Sie sich abends, nach einem ganz normalen Tag in Ihrem Ministerleben?

Erschöpft. Es ist ganz schlecht, spät abends mit mir Probleme zu besprechen, ich bin ein absoluter Morgenmensch. Ich rufe meine Staatssekretäre leidenschaftlich gern morgens zwischen halb acht und acht an. Ich weiß nicht, wie toll die das finden. Aber das ist der Zeitpunkt, ab dem meine Kinder gerade zur Schule sind.

Haben Sie noch nie gedacht: "Jetzt will ich endlich mal allein sein, jetzt brauche ich Zeit für mich"?

Nein, meine Zeit für mich heißt Familie. Entweder Zweisamkeit mit meinem Mann, das ist Zeit, die ich über alles liebe. Oder Zeit mit den Kindern. Im Schwimmbad oder auf dem Ponyturnier, zittern und bangen, ob die Stange fällt, und abends verdreckt und erschöpft wieder zu Hause ankommen. Das ist Zeit, in der ich auftanke.

Ursula von der Leyen, 50

... ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Großen Koalition. Die Tochter des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht studierte Medizin, bevor sie sich für die CDU engagierte. Von der Leyen war zunächst Familienministerin des Landes Niedersachsen, nach den Bundestagswahlen 2005 holte Merkel sie in ihr Kabinett. Die siebenfache Mutter lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hannover.

Von der Leyen, die die Familienpolitik der CDU grundlegend modernisiert hat (und eine ganze Serie eigentlich sozialdemokratischer Positionen umsetzte), stand in den vergangenen Monaten in der Kritik - unter anderem wegen der umstrittenen Sperrung von Kinderporno-Seiten. Im großen stern.de-Interview spricht sie über "Zensursula", das sogenannte Wickelvolontariat, ihr Verhältnis zur CDU und ihre Selbstbehauptung in der männerdominierten Politik.

Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen als Mutter?

Das hat sicher jede Mutter mal, phasenweise ich auch. Wenn ein Kind mit 'ner Sechs nach Hause kommt, klassische Situation, oder wenn es Tränen gegeben hat und ich das Problem nicht hab' lösen können. Gerade Schule kann einen hohen Druck ausüben, im nächsten Jahr habe ich fünf Kinder im Gymnasium, ich kann Ihnen sagen, ich bin wieder ganz schön fit in Physik und Latein. Aber ich habe nicht mehr das schlechte Gewissen, das ich als junge Mutter hatte, das hat mir oft die Umgebung gemacht. Heute bin ich reifer und gestandener.

Wie schaffen Sie das alles? Fahren Sie jeden Abend nach Hause? Oder reicht Ihnen das Wochenende, um eine gute Mutter zu sein?

Jetzt würde mich erstens interessieren, wie Sie die Zeiteinteilung für eine "gute" Mutter und "gute" Ministerin definieren. Und zweitens, wie oft Sie diese Frage schon Ministern gestellt haben, die auch Väter, Ehemänner und Söhne sind.

Können Sie verstehen, dass Sie manchen Menschen in Deutschland ein wenig unheimlich sind?

Ja, klar. Ich kann das verstehen. Das sitzt immer noch tief drin: sieben Kinder und Karriere, das kann doch gar nicht sein. Dabei ist völlig akzeptiert, dass Frauen Minister sind. Sogar Kanzler dürfen sie sein…

Nur Kinder dürfen sie nicht haben.

Und das ist der Punkt, den ich schrecklich gern ändern möchte: Dass Kinder nicht als etwas Begrenzendes gesehen werden, sondern dass wir Lebenswirklichkeiten schaffen, wo Kinder mittendrin sind.

Viele Frauen fühlen sich durch Ihren perfekten Lebensentwurf vorgeführt und unter Druck gesetzt.

Weil die nur das Ergebnis sehen. Ich habe aber auch mal ein Studium abgebrochen. Ich bin eine junge Frau gewesen, die mit zwei Kindern das Gefühl hatte: Ich klappe zusammen, wenn ich so weitermache - und habe als junge Ärztin in der Klinik deswegen um eine Halbtagsstelle gebettelt. Heute strahle ich eine gewisse Sicherheit aus, die viele junge Frauen noch gar nicht haben können. Die fragen, was ich auch gefragt hätte: Wo sind denn bei der die Ecken und Kanten, wo sind denn da die Probleme?

Der "Spiegel" mokierte sich über Ihr "Leben aus Vaseline", und "Konkret" höhnte über Ihr heimisches Glück, es handle sich um ein "niedersächsisches Idyll auf Speed"…

Ich bin sogar mit Magda Goebbels verglichen worden! Ganz am Anfang hat mich so was unglaublich verletzt. Da habe ich mich schon gefragt: Warum schreibt einer so was? Nach einer Weile habe ich gemerkt: Das macht dich kaputt, wenn du das so nah an dich rankommen lässt. Nimm es einfach zur Kenntnis.

Erst gab es für Sie nur Siege, jetzt häufen sich die Rückschläge: Trotz Elterngeld stagnieren die Geburtenzahlen, die Ausweitung des Elterngeldes für Teilzeitbeschäftigte konnten Sie nicht durchsetzen, zuletzt haben Sie mit Ihrem Gesetz zum Stopp von Kinderpornos im Netz die Internet-Community gegen sich aufgebracht. Dort verspottet man Sie inzwischen als "Zensursula". Müssen Sie jetzt das Verlieren lernen?

Wieso? Das Teilelterngeld steht im Wahlprogramm der Union. Kritik am Inhalt gab es ohnehin nicht, nur am Tempo, mit dem ich es einführen wollte. Was das Sperren von Kinderpornografie angeht, kann ich mit dem Spitznamen prima leben. Eine überwältigende Mehrheit der 40 Millionen deutschen Internetnutzer findet wie ich, dass das Sperren von Bildern vergewaltigter Kinder richtig ist. Und wenn ich aus dem Geburten-Auf-und-Ab etwas lernen muss, dann, mehr Geduld zu haben. Aber die Modernisierung der Familienpolitik ist ohne Alternative.

In der Politik findet das Kungeln und Strippenziehen oft erst spätabends beim Bier statt. Was macht dann Ursula von der Leyen?

Sie ist entweder auf einer Veranstaltung, muss also arbeiten - oder sie ist zu Hause.

Wird Ihnen das Nicht-dabei-Sein manchmal zum Vorwurf gemacht?

Mir ist prophezeit worden: Daran scheiterst du. Heute kann ich sagen: Es geht auch anders. Ich will deshalb auch vielen, vielen Frauen Mut machen: Es geht auch, ohne dass man seine Abende permanent der Politik verschreibt. Dazu muss man fleißig sein und sich zusammentun mit denen, die zu Recht sagen, Politik findet abends in diesen Zirkeln statt. Die muss man überzeugen: Ich brauche deine Hilfe. Du hast die Zeit abends. Wenn du da bist, setz dich ein für meine Sache.

Sie fremdeln mit dem Politikbetrieb, Sie sind da wie ein blonder Engel eingeflogen…

Die anderen waren sicher ein bisschen konsterniert über mich und haben sich gefragt: Was ist das denn jetzt für eine? Viele Regeln, Abläufe, ungeschriebene Gesetze habe ich nicht gekannt und gebrochen. Das stößt andere vor den Kopf. Wolfgang Schäuble, den ich sehr bewundere, hat mir oft klugen Rat gegeben, hat gesagt: Es wäre sinnvoll, Sie reden bei diesem Thema jetzt erst mal mit diesem oder jenem. Das war unglaublich hilfreich.

Politik ist oft noch ein Geschäft unter Männern. Wie schwer war es für Sie, sich durchzusetzen?

Ich habe gelernt, mich durch laute Stimme, aggressive Körpersprache und andere männliche Verhaltensmuster nicht einschüchtern zu lassen. Anfangs bin ich angeschrien worden, damit kann man Sie in heftigen Diskussionen einfach an die Wand schleudern.

Wer hat Sie angeschrien?

Männer. In hohen Positionen.

Minister?

Auch Minister.

Was tun Sie dann?

Nicht zurückbrüllen. Stimme senken. Und zum Beispiel sagen: "Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie mich jetzt hier anbrüllen. Die Rechnung vom Ohrenarzt kriegen Sie dann." Das hilft manchmal, nicht immer.

Als es um die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuung ging, notierte Finanzministerkollege Peer Steinbrück auf der Vorlage: "Familienministerium nicht beteiligt…

Das habe ich zum Beispiel erst zu spät gemerkt. Das sind Situationen, wo man ohnmächtig und bass erstaunt dasteht. Aber ich habe daraus gelernt: Das passiert dir so schnell nicht wieder.

Sie haben in knapp vier Jahren die Familienpolitik Ihrer Partei komplett gedreht. Ging das nicht alles viel zu schnell?

Jein (lacht). Wahrscheinlich durch meine Jahre im Ausland habe ich für mich gesagt: Wo ist das Problem? Ich musste dann lernen, dass es viel Überzeugungsarbeit braucht. Meine Generation musste ich überzeugen, dass die 25- bis 30-Jährigen beim Thema Familie und Beruf ganz anders ticken als wir 50-Jährigen. Den Älteren musste ich sagen: Ich will um Gottes willen nicht die Familie in Frage stellen! Sondern sie in der Moderne lebbar machen.

Was glauben Sie, wie viel Prozent der Unionsanhänger stehen hinter Ihrer Politik?

In Umfragen halten über 70 Prozent diese Familienpolitik für richtig. Auch bei den Katholiken sind es immerhin zwei Drittel.

Aber Sie muten Ihrer Partei viel zu.

Ich weiß, aber wir stehen mitten in einem ungeheuren Wandel. Als ich das erste Kind bekam, gab es gar keine Kindergartenplätze, also auch keinen Anspruch für ein fünfjähriges Kind. Das ist noch gar nicht lange her. Ganztagsschulen? Undenkbar! Und bei der Arbeit war eine Frau, die ein Kind bekam, für die Karriere abgeschrieben. Viele Ältere sagen mir: Wir haben anders gelebt, aber an meinen Töchtern und Söhnen sehe ich, dass sie Kindergärten und Kitas brauchen. Ich bin sicher, dass meine Kinder in 15 Jahren fragen werden: "Wo war eigentlich damals euer Problem?"

Hat es Sie verblüfft, dass es am Anfang so viele Widerstände gab?

Ja, weil mein inneres Gefühl viel mehr das einer Selbstverständlichkeit war. Am meisten verblüfft hat mich die Reaktion auf die Vätermonate beim Elterngeld. Dass es eine solche Zumutung sei, dass ein Mann - ein Mann! ein Mann! - sich zwei Monate Zeit nimmt für sein Kind. Das Schöne ist: Die jungen Männer tun's.

Peter Ramsauer von der CSU sprach vom "Wickelvolontariat".

Die Zeiten sind vorbei. Die CSU findet jetzt zu Recht die Vätermonate ganz klasse. Das sind die Prozesse, die wir jetzt zusammen erleben. Auch Peter Ramsauer hat erlebt, wie junge Männer gesagt haben: "Hey Chef, ich nehm' die Zeit, das sind meine Monate, die gehören mir. Das ist mein Kind, das ist meine Zeit, und ich bin als Vater unersetzlich."

Aber die Konservativen in der Union sagen: Die Familie wird nicht mehr so sein, wie sie einmal war, wenn Ursula von der Leyen mit ihr fertig ist.

Die Familie wird nicht mehr so sein, wie sie war, weil das ein Gesetz ist, dass sich seit Jahrtausenden abspielt. Familie organisiert sich je nach den Zeitumständen immer wieder anders.

Vielleicht irritiert viele in der Union, dass Sie über den Wandel so wenig traurig sind. Ihnen fehlt die typische Melancholie des Konservativen.

Diesen Schmerz und diese Trauer habe ich erlebt bei meiner Mutter, die mit Stolz, aber auch mit Wehmut sah, wie anders die Lebenswege ihrer Kinder, ihrer Töchter und Schwiegertöchter waren. Und wahrscheinlich werde ich eines Tages denselben Schmerz empfinden. Und meine Kinder werden nicht mehr erahnen, was wir erlebt und durchgemacht haben. Jede Generation muss auch neues Land betreten.

Würden Sie sich eigentlich als konservativ bezeichnen?

Als wertkonservativ, nicht als strukturkonservativ. Familie heißt, Verantwortung füreinander übernehmen, Bindung wagen. Das ist für mich ein konservativer Wert, und den will ich leidenschaftlich verteidigen - aber er muss eben unter modernen Bedingungen lebbar sein. Strukturkonservativ heißt: Alles soll so bleiben, wie es war. So bin ich nicht.

Also eine konservative Feministin?

Den linken Blick auf frauenpolitische Themen habe ich immer für zu eng gehalten. Mir war immer wichtig, dass Männer nicht nur noch angeklagt werden: "Macht mal, ändert euch mal, so wie wir das für richtig halten." Ein Mann ist keine zweitklassige Mutter, sondern ein erstklassiger Vater. Daher würde ich mir nie anmaßen zu definieren, wie ein Vater zu sein hat. Das müssen die Männer durchfechten. Aber dass das Thema Familie ein gemeinsames Thema, eine gemeinsame Leidenschaft von Frauen und Männern sein sollte, darauf bestehe ich.

Nützt Ihre Politik der CDU - oder nützt Ihre Politik in erster Linie Ursula von der Leyen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass sie der CDU nutzt. Meine Politik spricht vor allem Jüngere und Frauen an. Oft höre ich: "Ich habe bisher mit Ihrer Partei nichts zu tun gehabt, aber ich finde Ihre Politik richtig."

70 Prozent der Deutschen sind nach wie vor der Meinung, die Mutter solle möglichst lange zu Hause bleiben. Beeindruckt Sie diese Zahl?

Nein. Denn die Mehrzahl der jungen Frauen, übrigens auch der Männer, sagt auch: Sie möchten Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Natürlich sollen die Mutter und übrigens auch der Vater möglichst lange bei ihren Kindern bleiben. Aber das heißt doch nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, 52 Wochen im Jahr. Das hat es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben. Gehen Sie nur mal 100 Jahre zurück. Vater und Mutter mussten damals hart arbeiten, auf dem Bauernhof oder in der Fabrik. Geschwister oder die Oma kümmerten sich um die Kinder. Wo ist die Idylle in den letzten Jahrhunderten denn tatsächlich gelebt worden?

Ihre Sprache ist eine Sprache der allumfassenden Mobilisierung. Die Familie ist bei Ihnen nicht einfach nur Familie, sondern ein kleines Unternehmen: Eltern kümmern sich mit "Zeitmanagement" und "Multitasking" um die "Logistik"…

Multitasking ist doch ein Begriff, den jedes Unternehmen für seine Führungskräfte benutzt. Ich sage: Schaut euch mal die jungen Familien an, da findet ihr all das auch. Vater oder Mutter sein heißt, fünf Dinge auf einmal zu machen, ohne gleich Kakao zu schreien. Das sind Führungsqualitäten! Was haben Sie dagegen?

Sie beschleunigen die Welt. Alle müssen funktionieren, kein Platz für Schwäche. Wann hat man bei Ihnen mal was von Muße gehört?

Wenn wir permanent in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Arbeitswelt um Zeit für Kinder ringen, schaffen wir Zeit für Zuwendung, Zeit für Muße. Elterngeld ist Zeit für Kinder.

Statt zwei Jahren Erziehungsgeld gibt es nur noch maximal 14 Monate Elterngeld, nach der Reform des Unterhaltsrechts müssen sich geschiedene Frauen früher wieder einen Job suchen. Wollen Sie die Frauen zur Arbeit anhalten?

Völliger Schwachsinn. Frauen sind heutzutage oft hoch qualifiziert, das wollen sie im Beruf auch anwenden und damit Erfolg haben. Das würden Sie bei einem Mann übrigens nie infrage stellen, oder?

Steckt dahinter nicht die typische Perspektive der Akademikerin, für die Arbeit Selbstverwirklichung ist?

Das sagen Sie mal der Hartz-IV-Empfängerin, das finde ich menschenverachtend. Viele Studien zeigen, dass Arbeit gut tut und wichtig ist. Wenn Sie sich verwahrloste oder misshandelte Kinder anschauen: Zu allen erfolgreichen Konzepten der Stabilisierung von Familien gehört eine berufliche Perspektive für beide Eltern. Weil durch Arbeit Struktur im Tag entsteht, Austausch mit anderen, Selbstwertgefühl.

Die Frau, die bei Aldi an der Kasse sitzt, verwirklicht sich nicht selbst. Die kann sich was Besseres als Arbeit vorstellen…

Nein, nein, nein! Auch die Frauen, die an der Kasse sitzen, sagen: Ich verdiene mein eigenes Geld, ich stehe auf eigenen Füßen. Das macht stolz. Es ist eine männliche Sichtweise, Arbeit nur noch als Fron zu sehen, sobald es um Mutter und Kind geht. Mir geht es um die Erweiterung der Möglichkeiten, auch für Männer, die sich bisher nur über den Beruf definiert haben. Die können und wollen auch Väter sein, übrigens können sie auch pflegende Söhne sein.

Sie wollen den neuen Mann schaffen - und damit einen neuen Menschen. Ist das nicht ein totalitärer Ansatz?

Schmarrn! Ich will nicht den neuen Mann schaffen, sondern dafür sorgen, dass auch die Männer die Fülle ihrer Möglichkeiten leben können.

Immer wieder ist zu hören, dass Sie sich für den Job der Bundesgesundheitsministerin interessieren...

Tatsächlich? Alles Gerüchteküche!

Vor zwei Jahren haben Sie sich eine neue Frisur zugelegt. Es gibt ja die verbreitete Vorstellung, Frauen würden ihre Frisur ändern, wenn sie ihr Leben ändern wollen. Haben wir etwas Wichtiges verpasst?

Begraben wir diese Vorstellung als ein Männervorurteil. Ich habe ja den Beweis schon angetreten, dass ich mit großer Kontinuität und neuer Frisur fröhlich weitermarschiert bin. Außerdem bleibe ich dabei: Es kommt nicht auf die Frisur an, sondern auf das, was unter der Frisur steckt.

Interview: Tilman Gerwien

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