US-Präsidentschaftswahl "Ja, deutsche Politik ist stinklangweilig"

  • von Sebastian Christ
Barack Obama wird gefeiert wie ein Popstar. Ein Politiker! Das wäre in Deutschland wohl undenkbar. Das glaubt auch Jenik Radon, Finanzfachmann im Wahlkampf-Komitee von Obama. Der deutschstämmige Jurist sagt im Interview mit stern.de, warum er trotzdem notfalls in eine deutsche Partei eintreten würde.

Herr Radon, könnten die deutschen Politiker etwas vom amerikanischen Wahlkampf lernen?

Ich glaube, sie könnten etwas lernen. In den USA entscheiden sich Dinge öfter über die Person als über den Sachverhalt. Am Ende gleicht es der reelle Sachverhalt nie aus, man braucht Leute, die Entscheidungen treffen. Sie brauchen Beurteilungskraft. Das ist etwas, was man in den USA in den Vordergrund stellt: Man schaut die Person an und fragt sich, ob man der Person nicht nur einfach trauen kann, sondern ob er auch die Kraft hat, Entscheidungen zu treffen. Natürlich führt das auch zu den verkürzten Statements in den Medien. Aber in den USA kann so eben auch beurteilt werden, ob jemand eine Vision hat. Und das fehlt hier in Deutschland.

Zur Person

Jenik Radon, geboren 1946 in Berlin, ist Anwalt für Gesellschaftsrecht in New York. Seit 2002 lehrt er auch an der Columbia University. Radon ist Mitglied im "Tri-State Finance Committee" von Barack Obamas Wahlkampf-Team.

In Amerika gibt es den Ausdruck "Leadership". Führen können, Verantwortung übernehmen, das ist in der amerikanischen Gesellschaft ein sehr hoher Wert. In Deutschland wird das etwas anders bewertet, es gibt keine Kultur des "Leadership". Wäre denn ein personalisierter Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild überhaupt möglich? Oder würde das nicht unfreiwillig komisch wirken?

Der deutsche Stil ist zu oft: Der Manager fällt eine Entscheidung, und die anderen führen es aus. In Amerika wird eher eine Richtung vorgegeben, und jeder hat dann die Freiheit, es nach seinen Vorstellungen auszuführen. Deshalb geht bei uns im Wahlkampf vieles über den Charakter. Wir wollen beurteilen, was für ein Mensch es ist. Wir versuchen zu verstehen, was für einen Charakter er hat. Und erst wenn wir wissen, was für ein Mensch es ist, dann können wir sagen, ob er Leadership hat, ob er führen kann. Für das Parteiensystem heißt das: Es wird zu oft passiert, Dinge klarzustellen, und sich später dann an seine eigenen Worte zu halten. Das würde heißen, dass man die Probleme von morgen bereits kennt. Auf manche Sachen muss man eben reagieren, und da reicht eine Richtung. Die deutschen Politiker konzentrieren sich zu sehr auf die Tat, und nicht auf dir Richtung.

Ein Beispiel?

Deutschland überaltert, und natürlich hat niemand Lust, dieses unangenehme Problem allein zu lösen. Dabei müsste man einfach mehr Freiheit in das System geben, in ganz kleinen Schritten. Warum darf eine Frau eigentlich nicht ihr Kind mit ins Büro bringen? Man kann in dieser Frage nicht eine Antwort finden, sondern viele.

Aber manche Dinge, die in Deutschland bis ins Detail geplant werden, funktionieren ja im internationalen Vergleich relativ gut. Zum Beispiel das System der Krankenversicherungen…

… aber es fehlt in Deutschland am Spirit. Wo geht die Welt hin? Meine Mutter, die aus Pommern stammt, hat sich diese Frage immer wieder gestellt: Warum sind wir auf dieser Welt? Wozu?

Also fehlt das Visionäre?

Das Wort ist hier wohl nicht sehr erwünscht.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Das würde ich so nicht sagen. Ein Mann wie Barack Obama hat ja auch sehr viele Anhänger in Deutschland gefunden, weil er - zumindest im Vorwahlkampf - das Visionäre verkörperte.

Ich habe gesehen, dass ihm 200.000 Menschen in Berlin zugehört haben. Was ich nicht gelesen habe: Wie alt waren diese Leute im Schnitt? Ich würde vermuten, dass die Begeisterung für das Visionäre eher bei den jungen Menschen zu suchen ist, die Älteren ziehen nicht mit. Was hier falsch läuft: Man versucht hauptsächlich, den kleinen Mann durch ein soziales Netz abzusichern. Das unterstütze ich auch vollkommen. Aber die Visionäre, die was ganz Aufregendes machen, im akademischen und wirtschaftlichen bereich, die bekommen zu wenige Chancen.

Um noch einmal auf die deutsche Politik zurückzukommen: In der Regel ist es ja so, dass man mit 20, 25, 30 in eine Partei eintritt und dann mit 50 oder 60 im besten Fall einen hohen Posten abbekommt…

…das ist auch etwas, was ich als sehr nachteilig empfinde. In den USA ist es nicht ungewöhnlich, dass der Chef 25 oder 30 Jahre alt ist, und Angestellte mit 50 oder 60 Jahren an ihn Bericht erstatten müssen. Warum soll das unvernünftig sein? Und das betrifft auch die Politik: Wenn ich mich selbst erst innerhalb einer Partei aufbauen muss, dann begrenze ich meine Begeisterung. Ich lerne, wie ein System funktioniert, und irgendwann kann ich auch nichts anderes mehr. Das ist ein den USA anders. Barack Obama hat vor vier oder fünf Jahren noch niemand gekannt. Er kam aus dem Nichts. Sein größter Vorteil in meinen Augen: Er begeistert Leute.

Einerseits haben wir keinen Barack Obama in Deutschland. Andererseits gab es auch nie einen George W. Bush, was ja auch daran liegen kann, dass Parteien eine gewisse Filterfunktion haben.

Ja, wir haben einen George W. Bush, und ich bin wahrlich kein Anhänger von ihm. Aber wenn ich auf meine Erfahrungen zurück schaue, dann ist es wirklich das erste Mal, dass es völlig daneben gegangen ist. In etwa 50 Jahren!

Wurde diese Begeisterung für George W. Bush nicht an manchen Stellen missbraucht? Es gab ja viele in den USA, die 2003 wirklich geglaubt haben, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügte.

Wollen wir es so sagen: Bush hat das Vertrauen missbraucht, wenn er wirklich alles öffentlich anders dargestellt hat, als es seinem Wissensstand entsprach. Hat er falsche Informationen bekommen, dann ist das System falsch. Ich vermute, dass er nicht ganz mit offenen Karten gespielt hat. Ich persönlich war nie davon überzeugt, dass es diese Waffen gegeben hat.

Die Deutschen fürchten sich ja mitunter auch aus historischen Gründen vor zu starkem Charisma.

Es ist ja allgemein bekannt, dass man verdammt ist, die Geschichte zu wiederholen - wenn man sie nicht kennt. Aber wenn man nur Geschichte lebt, kommt man nicht vorwärts. Ich hatte gehofft, dass diese Einstellung mit der Wiedervereinigung verschwinden würde, aber es scheint in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Ich glaube, dass die Deutschen sich deswegen beschränken und Dinge nicht schaffen, die sie schaffen könnten. Charisma und Spirit bewegen das Leben!

Wenn Sie Politiker wären: Würden sie in eine deutsche Partei eintreten?

Wenn ich die deutsche Staatsbürgerschaft hätte, und hier leben würde, dann würde ich es vermutlich tun. Aber ohne große Begeisterung.

Warum?

Ansonsten hätte ich nichts zu sagen. Jeder Mensch hat drei verschiedene Lebensbereiche: Das Privatleben, das Berufsleben, und, drittens: das öffentliche Leben. Meine Mutter hat anscheinend wirklich einen großen Einfluss auf mich gehabt: Wozu sind wir hier? Beschränke Dich nicht immer nur auf Dich selbst. Das hat mir meine Mutter aus Pommern beigebracht! Wenn das System es nicht anders erlaubt, als in einer Partei, dann trete ich natürlich in eine Partei ein.

Ist die deutsche Politik stinklangweilig?

Ich glaube ja. Wenn ich darüber nachdenke, wo Deutschland in zehn oder fünfzehn Jahren sein wird, dann wird es immer noch da sein, wo es jetzt ist.