Sie sitzen überall. In der Kampfstärke einer halben Division, etwa 5000 Mann, rund um den Reichstag. Sie sitzen im Bundestag, oft unerkannt. Sie sitzen in den Bundesministerien, gut bezahlt. Und sie sitzen sogar dort, wo sie gar nicht sitzen dürften – in den Sitzungen von Ausschüssen des Bundestags, die für Gäste gesperrt sind. Aber der Lobbyist kennt Tür und Tor.
So lauschte unlängst unerkannt der Lobbyist der Lebensmittelbranche, Patrick Albers, bei internen Beratungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ein FDP-Mitarbeiter hatte dem FDP-Mitglied Zugang verschafft. Es ging schließlich um eine Frage, welche die Branche hoch interessierte: die Verschärfung des Lebensmittelrechts zum besseren Schutz der Verbraucher. Erst nach drei Sitzungen flog Albers raus. Das Büro des Ausschussvorsitzenden Hans-Michael Goldmann sei informiert gewesen, rechtfertigte er sich. Und der ist in welcher Partei? Einmal darf man raten – in der FDP. In Lobby-Kreisen sind erstaunliche Karrieren möglich. Etwa die des Leo Dautzenberg. Bis zum Jahresende ist er noch finanzpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. Ab kommender Woche amtiert er als Berliner Cheflobbyist des Energiekonzerns Evonik, der stetig Aufmerksamkeit erregt durch fünf- bis sechsstellige Parteispenden an CDU oder SPD. Dautzenberg ist ein engagierter Befürworter von Steuersenkungen. Karrierewechsel dieser Art, verbunden mit weitaus besserer Bezahlung, sind keine Seltenheit im politischen Berlin. Klassisch etwa der Umstieg des beamteten SPD-Staatssekretärs Klaus-Theo Schröder. Nach der Bundestagswahl wurde er abgelöst und diente etwa dem Bundesverband Medizintechnologie mit Lobby-Tips als Referent zum Thema "Funktion und Arbeitsweise eines Ministeriums". Ab kommender Woche arbeitet er dem Verband der privaten Krankenversicherung (PKV) zu als Ombudsmann bei Streitereien zwischen Versicherten und Versicherungen. Hinter ihm stehen neun Millionen Versicherte mit sehr gesunder Finanzlage.
Die "schleichende Unterwanderung"
Dass die Heerscharen der Lobbyisten in der Politik massiven Einfluss nehmen, ist unstrittig. Die Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt sprach bereits von einer "schleichenden Unterwanderung der demokratischen Entscheidungsfindung". Dass sich die Politik immer wieder von der Lobby zu bestimmten politischen Entscheidungen steuern lässt, wird dennoch vielfach bestritten – vor allem von den Bundestagsabgeordneten.
Dagegen gibt es gewichtigen Widerspruch. Edda Müller etwa, Vorsitzende der Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland, warnt: "Der Zugang zur Politik darf nicht von der finanziellen Macht bestimmter Unternehmen oder anderer Interessengruppen abhängen." Die Frage, ob die bundesdeutsche Demokratie letztlich nicht doch eine Lobbykratur ist, stellt sich berechtigt.
Arbeit im Auftrag der Industrie
Kennzeichnend waren zwei politische Entscheidungen im abgelaufenen Jahr. Erstens die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, die den Stromkonzernen 100 Milliarden Zusatzgewinn bringen dürfte. Ausgehandelt wurde der Atom-Deal in tiefer Nacht mit Vertretern der vier Kernkraftwerks-Betreibern im Kanzleramt. Bekannt gegeben wurde die Aktion nie. Sie flog nur auf, weil sich ein Konzernvorstand verplauderte. Der Bundestag und seine Abgeordneten waren nicht beteiligt.
Zweitens die neue Bewertung des medizinischen Nutzens von Arzneimitteln. Während der Großen Koalition war zum Ärger der Pharmaindustrie eine schärfere Kontrolle des Nutzens von Medikamenten durchgesetzt worden. Mehr Geld sollte bei neuen Produkten nur für mehr Wirkung gezahlt werden. Jetzt ist diese unabhängige Nutzenbewertung erheblich entschärft worden. Und sie muss vor allem die volkswirtschaftlichen Interessen der Arznei-mittelindustrie berücksichtigen. Sind deren Arbeitsplätze so wichtig wie die Gesundheit der Bürger? Bemerkenswert auch: Beim Arzneimittelsparpaket der schwarz-gelben Regierung fanden sich im Gesetzestext wortgleiche Formulierungen, die sich zuvor in Unterlagen der Arzneimittelhersteller befunden hatten. Eindeutige Gesetzgebungsarbeit im Auftrag der Industrie.
Die Strippen werden offen gelegt
Etwas Licht in die dunkle Szene der Einflussnahme in den Hinterzimmern der politischen Macht ließe sich durchaus bringen. Edda Müller fordert, unterstützt von der SPD, ein Lobbyregister, auf der allerdings nicht nur die rund 2100 Verbände der Szene notiert sein sollen, sondern auch all ihre Aktivisten rund um das Bundeshaus. Rechtsanwälte ebenso wie Kontaktvermittler und Politikberater, unter denen sich viele ehemalige Journalisten befinden.

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Besonders heikel für die Volksvertreter mit Zusatzjob: Sie sollen künftig präzise angeben, für wen sie "nebenbei" Strippen ziehen und offen legen, welche Nebeneinkünfte sie im Lobbygeschäft erzielen. Derzeit erfährt man nur pauschal, dass sie mehr als 7000 Euro im Jahr hinzubekommen. Doch manche Abgeordnete kassieren hier ein Vielfaches. Der SPD-Abgeordnete Christian Lange fordert, "die finanziellen und organisatorischen Hintergründe müssen transparent gemacht werden". Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt vor – nur der Widerstand gegen die Umsetzung dieses "legislativen Fußabdrucks ist" enorm. Selbst in der SPD-Bundestagsfraktion.
Aufklärung besonderer Art betreibt derzeit allein der Verein "Lobby-Control". Er veranstaltet Führungen durch die Lobby-Szene: in die Edellokale, in denen Kontakte geknüpft werden, ins Café Einstein, dem Polit-Treffpunkt Nummer 1, auf die Sommerfeste der Parteien und vorbei an Hauptstadtrepräsentanzen der Konzerne rund um den Gendarmenmarkt.
Erkenntnisse, wie eng die Verbindungen zwischen Politik und Lobby tatsächlich sind, bringt das natürlich nicht. Für Gregor Gysi, den Fraktionschef der Linkspartei, ist ohnehin alles klar. Er nennt Angela Merkel eine "Kanzlerin der Konzerne", die aus "dem Kanzleramt ein Hinterzimmer für Lobbyisten" gemacht habe. Vermutlich zielt die Bemerkung auf die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, Hildegard Müller. Die war zuvor Merkels Staatsministerin im Kanzleramt.