Zwischenruf Angela, die Scheinriesin

Turmhoch überragt die Bundeskanzlerin in den Umfragen dieses Sommers den SPD-Vorsitzenden Kurt Beck. Doch sie lebt nur von seiner Schwäche - in Wahrheit ist sie in zwei Jahren Großer Koalition nicht vorangekommen stern Nr. 32/2007

Wie viel Sein ist im Schein? Welche Wirklichkeit bergen die unwirklich anmutenden Zahlen? Wie mächtig, wie gefestigt, wie unangreifbar ist die Kanzlerin nach fast zwei Jahren großer Koalition? Oberflächlich betrachtet hatte sie nie so viel Vorsprung. 57 Prozent der Deutschen würden sich aktuell für Angela Merkel entscheiden, wenn sie die Kanzlerwahl hätten - direkt, ohne das Kreuz bei einer Partei machen zu müssen wie bei einer echten Bundestagswahl. Nur 16 Prozent würden für Kurt Beck votieren. 41 Punkte Differenz - deklassierend. 13 Punkte hat die CDU-Vorsitzende seit Jahresbeginn hinzugewonnen, 9 der SPD-Chef verloren. Nur 30 Prozent der SPD-Wähler würden dem eigenen Mann ihre Stimme geben, 41 Prozent seiner Konkurrentin. Das ist ernst zu nehmen. Für Kurt Beck. Und doch infrage zu stellen. Für Angela Merkel. Denn eine genauere Untersuchung der Zahlen offenbart, dass die Kanzlerin von der Schwäche des Gegners lebt, nicht von eigener Stärke.

Das Berliner Forsa-Institut, das die Kanzlerneigungen für den stern erhebt, hat das getan. Und schon entweicht die Luft aus den aufgeblähten Werten. Rechnet man nämlich die SPD-Wähler heraus, die Merkel bevorzugen, dann schrumpft ihr Wert um 11 auf 46 Prozent. Wird zudem der Frauenbonus von 7 Prozentpunkten eliminiert - 61 Prozent der Frauen entscheiden sich für die Kanzlerin, 54 Prozent der Männer, doch unter diesen Frauen sind viele, die nie CDU oder CSU wählen würden -, dann kommt Merkel nur noch auf 39 Prozent. Das entspricht etwa jenen 38 Prozent, die sich heute auch zur Union bekennen. Legt man diese Zahl - bei 29 Prozent Unentschlossenen - auf die Gesamtheit aller Befragten um und vergleicht das mit dem Anteil der CDU/CSU an allen Wahlberechtigten bei der Wahl 2005 - damals waren 23,5 Prozent zu Hause geblieben oder hatten ungültig gestimmt-, dann sind die Resultate fast identisch: aktuell 27, vor zwei Jahren 26,9 Prozent.

Die Union hat also nichts hinzugewonnen - trotz der im doppelten Wortsinn blendenden Werte ihrer Kanzlerin. Plötzlich verkehrt sich der Eindruck der Umfragen ins Gegenteil: Sie müssen die CDU/CSU beunruhigen. Und Ansporn sein für die SPD: Die Partei ohne aktionsfähiges Zentrum, ohne geschlossene Darstellung ihrer Regierungsleistung und ohne zugkräftigen Spitzenkandidaten hat seit der Wahl 2005 dramatisch an Zustimmung verloren. Damals kam sie auf 26,2 Prozent aller Wahlberechtigten, heute auf 18 Prozent aller Befragten. Die Grünen aber haben nur von 6,2 auf 7 Prozent zugelegt, die Linke von 6,7 auf 9. Mit anderen Worten: Das Wählerpotenzial der SPD ist nicht verloren gegangen, viele wären zurückzugewinnen von den Unentschlossenen und Frustrierten. Wenn sich ihre Führung nur berappelte - hinter einem Mann mit Ausstrahlung.

Merkel hat keine Identität gewonnen - und sie hat der CDu keine gegeben. Die Kanzlerin ist, wie bei der Wahl 2005, noch immer persönlich zu unklar, unfassbar

Angela Merkel hat Respekt gewonnen, in Heiligendamm und Brüssel, sie hat bewiesen, dass sie regieren kann. Sie ist auch persönlich freier geworden - selbstbewusst, schlagfertig und zuweilen sogar witzig. Doch das zeigt sie eher im kleinen Kreis, selten in großer Öffentlichkeit. Sympathie und Vertrauen sind ihr kaum zugewachsen. Dafür ist sie, wie bei der Wahl vor zwei Jahren, noch immer persönlich zu unklar, unfassbar. Um verlässlich Vertrauen zu mobilisieren, muss ein Spitzenpolitiker für die Wähler charakterlich und kulturell erkennbar werden. Merkel aber ist für die Ostdeutschen nicht ostdeutsch und für die Westdeutschen nicht westdeutsch. Fast leugnet sie ihre Wurzeln. Unlängst dankte sie in Washington dafür, dass "wir" nach dem Krieg Marshallplan-Hilfe aus den USA bekommen hätten. Ach ja - auch sie, die Ostdeutsche? Und sie öffnet sich nicht. Ihr Mann, der schweigsame Chemiker, nimmt zwar neuerdings bei Staatsbesuchen am Partnerprogramm teil.

Doch wie er über die Arbeit seiner Frau denkt, wie die beiden miteinander leben, wie sie ihre Wohnung am Berliner Kupfergraben eingerichtet haben und wen sie dort als Gäste empfangen - unbekannt. Bei Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder kannte man auch Persönliches, Privates - die Wähler konnten sich ein Bild von ihnen machen. Merkel hingegen hat keine Identität gewonnen - wie sie auch der CDU keine gegeben hat. Auf Druck ihrer Berater speist sie gelegentlich Persönliches in Interviews ein; doch es wirkt seltsam fremd, inszeniert, wenn sie etwa berichtet, sie habe "mit eigenen Pflaumen" Kuchen gebacken. Der Kinderbuchautor Michael Ende hat das Bild vom Scheinriesen geprägt. Der wirkt auf Entfernung gigantisch, schrumpft aber, wenn man sich ihm nähert - bis auf Normalmaß, wenn man ihm Auge in Auge gegenübersteht. Noch ist Angela Merkel eine Scheinriesin der deutschen Politik.

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Hans-Ulrich Jörges