Zwischenruf Der rasende Staat

Heiligendamm und das martialische Aufrüsten um den G-8-Gipfel werden zum Symbol dafür, wie Otto Schily und Wolfgang Schäuble das Land verändert haben. Wer widersteht noch dem Marsch in eine andere Republik? stern Nr. 23/2007

Die Psyche zweier Minister hat ein Land verändert. Ihre Prägungen und Verbiegungen haben den Staat umgeprägt und die offene Gesellschaft verbogen. Jetzt, vor Heiligendamm, wird der einstmals liberale Rechtsstaat, nach bald einem Jahrzehnt kontinuierlicher Verbiegung, als das kenntlich, was sie aus ihm gemacht haben: als rasender Sicherheits- und Überwachungsstaat. Sein Charakter: skrupellos statt skrupulös. Der Zweck heiligt alles. Otto Schily und Wolfgang Schäuble dürfen als Mustermänner dafür gelten, wie Persönliches politisch wird. Schily, der Großbürgersohn mit der aristokratischen Arroganz und den menschenverachtenden Manieren, hat die staatskritischen Umtriebe seiner frühen Jahre, die Nähe des Anwalts zu seinen terroristischen Mandanten, die jakobinische Schärfe seiner Attacken gegen die Korruption politischer Macht auf atemberaubende Weise kompensiert: durch Staatsvergötzung ohne Halt und Grenzen. Sieben Jahre lang.

Wer ihn besuchte, auf der Ministeretage aus dem Lift stieg, den sprang die Angst seiner Mitarbeiter geradezu an. Wer politisch zu tun hatte mit diesem Ministerium der Angst, wer dem Staatsvergötzer in der rot-grünen Koalition mäßigend in die Parade zu fahren versuchte, dessen Würde war bedroht durch schneidende Verachtung. Sanft, zugänglich, ja charmant war der rasende Renegat nur jenen gegenüber, die er auf Augenhöhe wähnte. Autorität über sich gönnte er nur einem einzigen: seinem Kanzler, Gerhard Schröder. Als Wolfgang Schäuble an Schilys Stelle trat, atmete das Ministerium auf. Ganz anders war der Neue, ein Mann bürgerlicher Verkehrsformen, höflich, beherrscht, berechenbar. Psychologisch aber brachte der Konservative sein eigenes Päckchen mit, das des Attentatsopfers, die seelische Last eines Mannes, der mit eigenem Blut und Leben für Staat und Politik eingestanden war. Politisch hieß das, auf einen Schily noch einen Schäuble draufzusetzen.

War Schily schon an den Rand der Verfass ung gegangen, mit den "Otto-Katalogen" seiner Sicherheitsgesetze - biometrische Daten in Pässen, erweiterte Überwachung durch die Geheimdienste, Kontrolle von Bankkonten und Geldbewegungen etwa -, trieb es Schäuble noch weiter, über die Grenzen des Grundgesetzes hinaus. Bundeswehreinsatz im Innern, Ermächtigung zum Abschuss entführter Flugzeuge und Online-Razzien durch elektronische Agenten in privaten Computern sind Marksteine auf diesem Weg zu einem anderen Staatsverständnis, einem obrigkeitsstaatlichen, das keine Unschuldsvermutung mehr kennt und das durch Massenspeicherung von Fingerabdrücken ein ganzes Volk erkennungsdienstlicher Behandlung überantworten will. Es ist der Marsch in eine andere Republik, der nach einem Aufstand der Opposition schreit. Doch deren Widerstand ist erlahmt, auch die Liberalen säuseln nur noch.

Der Staat wandelte sich von skrupulös zu skrupellos. Hat Putin so unrecht? Vielleicht ist ja auch Deutschland keine lupenreine Demokratie mehr

Politische, auch parteitaktische Erklärungen reichen dafür nicht mehr aus. Gewiss: Die Welt ist anders geworden seit den Anschlägen des 11. September, und Kampagnen gegen die Videoüberwachung öffentlicher Räume oder gar eine harmlose Volkszählung erscheinen heute wie hysterische Auswüchse fehlgeleiteter Liberalität. Gewiss auch: Schily hatte für Rot-Grün die rechte Flanke zu sichern, Schäuble soll in der umgemerkelten CDU Rest-Konservatives markieren. Doch es bleibt ein Überschuss an persönlich Getriebenem, es bleiben die Symptome eines psychopathisch deformierten Staates. Wäre der Richter Dieter Wiefelspütz, als innenpolitischer Sprecher der SPD Gegenspieler Schilys, unter Gerhard Schröder Innenminister geworden und der Anwalt Wolfgang Bosbach dessen Nachfolger unter Angela Merkel - die Dinge stünden anders. Der Rechtsstaat wäre kenntlicher, freiheitlicher.

Und das Klima wäre anders. Die Eskalation des Sicherheitswahns um Heiligendamm, die Verwischung der Grenzen zwischen Protest und Terrorismus, die kulturell monströsen Geruchsproben von Verdächtigen à la Stasi wären uns wohl erspart geblieben. Jedenfalls fände sich so leicht kein anderer Innenminister als Schäuble, der die Symbolik dieses Grenzübertritts in den Schnüffelstaat derart verblendet leugnen würde. Selbst die Kanzlerin mit der DDRVita darf sich düpiert fühlen, die mit Bedacht den Oscargekrönten Stasi-Film "Das Leben der Anderen" gesehen hat, in dem Geruchsproben in Gläsern eine schaurige Rolle spielen. Das schrillste Alarmsignal aber verklang hierzulande nahezu ungehört: dass sich nämlich der russische Präsident auf deutsches Vorbild berief, als er im Streit mit Merkel die Drangsalierung von Oppositionellen verteidigte. Hat Putin wirklich so unrecht? Vielleicht ist ja auch Deutschland keine lupenreine Demokratie mehr.

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Hans-Ulrich Jörges