Migrationsdebatte Ruanda-Modell: Was es bedeutet und wie es funktioniert

Nach dem Bund-Länder-Beschluss: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU, v. l.)
Nach dem Bund-Länder-Beschluss: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU, v. l.)
© Bernd von Jutrczenka / DPA
Alle Jahre wieder kommt in der deutschen Migrationspolitik eine Idee auf: Warum Asylverfahren nicht im EU-Ausland abwickeln? Also…

Hendrik Wüst hat sich mehr erhofft. Dennoch gab sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident von der CDU zufrieden. Er konnte die Bundesregierung für ein Thema "öffnen", wie er am Dienstagvormittag frohlockte. Dieses Thema sei nicht einfach, erklärte Wüst, brauche man dafür schon "ein bisschen gedanklichen Anlauf".

Tatsächlich hat dieses "Thema" die Bund-Länder-Runde ordentlich ins Stolpern gebracht, den Betriebsablauf mächtig gestört und um Stunden verzögert. Kurzfristig hatten die von Union und Grünen geführten Bundesländer die Abwicklung von Asylverfahren außerhalb von Europas in die ohnehin schwierigen Verhandlungen zur Migrationspolitik eingespeist. Erst am Dienstagmorgen stand der Beschluss. Die Bundesregierung soll nun prüfen, ob das Vorhaben überhaupt umsetzbar ist. Daran gibt es durchaus Zweifel, aber mehr gleich dazu.

Wüst glaubt, dass ausgelagerte Asylverfahren das Sterben im Mittelmeer "sofort" beenden und für "Humanität und Ordnung" sorgen könnten. Im Kern sieht die Idee vor, Migrationszentren in sicheren Drittstaaten außerhalb der EU zu errichten. Dort soll dann – unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention – über die Asylanträge entschieden werden.

Schutzsuchende, so die Prämisse, würden sich dann gar nicht erst auf den oft tödlichen Weg übers Mittelmeer machen: Sie müssten damit rechnen, am Ende in einem anderen Land auf ihr Asylverfahren warten zu müssen. Somit würde auch die irreguläre Zuwanderung nach Deutschland sinken.

Schon der frühere SPD-Innenminister Otto Schily hatte von Aufnahmelagern in Nordafrika geträumt, das war im Jahr 2004. Auch "Otto der Harte" wollte Flüchtlinge aus Seenot retten, aber weitere potenzielle Flüchtlinge zugleich abschrecken, sagte er seinerzeit. Und: "Ich glaube, dass auch die nordafrikanischen Länder ein Interesse daran haben müssen, dass sich die Sache nicht so entwickelt, wie sie sich entwickelt." Seine späteren Amtsnachfolger Thomas de Maizière (CDU) und Horst Seehofer (CSU) hatten den Traum ausgelagerter Asylverfahren ebenfalls geträumt.

Warum ist ihr Traum bis heute nicht in Erfüllung gegangen? In der kalten Theorie stellen sich viele praktische und rechtliche Fragen.

Der Ruanda-Plan

Denkbar wären bei Asylverfahren außerhalb der EU zwei Varianten. Die erste: Migranten könnten in Transitstaaten – also auf dem Weg nach Europa – Asylanträge für Deutschland stellen. Die zweite: Schutzsuchende werden aus Deutschland in Länder außerhalb Europas zurückgeschickt, wo sie dann ihr Asylverfahren durchlaufen würden. Letztere Variante kommt den aktuellen Vorschlägen noch am nächsten – und wird von Großbritannien angestrebt.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Die britische Regierung versucht bereits seit zwei Jahren, Asylbewerber zur Bearbeitung ihres Antrags ins ostafrikanische Ruanda zu schicken. Der Plan: Eine ausgewählte Anzahl jener Einwanderer, die entweder per Boot oder auf anderen – mittlerweile von Premierminister Rishi Sunaks – Regierung als "illegal" definierten Wegen auf die Insel gelangen, soll direkt nach der Ankunft im Königreich per Flugzeug in den afrikanischen Staat verfrachtet werden, mit dem die Briten ein entsprechendes Abkommen geschlossen haben. Auf diese Weise sollte zum einen der Rückstau bei der Bearbeitung von Asylanträgen reduziert werden, zum anderen hoffte Sunaks Regierung, die Ruanda-Drohung möge abschreckend auf jene Flüchtlinge wirken, die an der französischen Küste die riskante Überquerung des Ärmelkanals in Schlepper-Booten planen. Derzeit warten in Großbritannien mehr als 175.000 Flüchtlinge auf die Bearbeitung ihres Asylantrags, manche davon bis zu zwei Jahren. 

Die angestrebte Abschiebungslösung ist nicht nur praktisch und rechtlich schwer umsetzbar, sondern auch noch unverhältnismäßig teuer. Zur Umsetzung ihres Abschiebungsplans zahlte die britische Regierung bereits 161 Millionen Euro an Ruanda, obwohl bisher noch kein einziger Flüchtling aus Großbritannien das Land erreichte. Die Abschiebung in den afrikanischen Staat sei pro Person 73.000 Euro teurer als die Antragsbearbeitung in Großbritannien, ermittelte die Regierung selbst. Dennoch ließen die Briten in Ruanda 250.000 Unterkünfte für Flüchtlinge bauen, Innenministerin Suella Braverman besuchte sie im März dieses Jahres und bezeichnete sie als "wunderschön". 

Allein: Die Zimmer bleiben bislang unbewohnt. Bereits am 15. Juni 2022 stand die erste für Ruanda bestimmte Maschine auf der Startbahn eines Militärflughafens im südenglischen Wiltshire, in ihr gerade sieben Flüchtlinge, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in letzter Minute den Abschiebestopp befahl. Die Deportationen verletzten die Menschenrechte der Betroffenen, hieß es im Urteil. Die Regierung legte Einspruch ein – und verlor. Im April erklärte der Oberste Gerichtshof in Großbritannien, Ruanda sei kein sicheres Drittland für Flüchtlinge. Seither versucht Sunaks Regierung, die rechtliche Hürde zu umgehen, selbst der Austritt aus der Menschenrechtskonvention wird derzeit erwogen.

"Sehr skeptisch, wie das gelingen kann"

Der nun von Wüst und Union eingebrachte Vorschlag beruht auf einer Idee des Migrationsforschers Gerald Knaus. Es gehe um "Entmutigung", sagte er kürzlich zur "Süddeutschen Zeitung", also um die Botschaft: "Wer sich in ein lebensgefährliches Fischerboot setzt, um von Senegal aus zu den Kanarischen Inseln zu fahren, wird dann schnell in einen sicheren Drittstaat zurückgebracht."

Zu den rechtlichen Einwänden sagte der Experte, dass die Asylverfahren in einem Partnerstaat wie Ruanda unter Aufsicht des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR durchgeführt werden könnten. Und natürlich müsse es für den Partnerstaat attraktive Angebote geben, um diese Lasten zu übernehmen.

Neben den (europa-)rechtlichen Bedenken dürfte sich vor allem die Partnersuche als schwierig erweisen. Sogar Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ist trotz seiner Unterstützung für die Drittstaatenlösung "sehr skeptisch, wie das gelingen kann".

Nach dem Beschluss der MPK, sozusagen das Ruanda-Modell zu prüfen, betrieb er Erwartungsmanagement. In solch einer schwierigen Situation sollte man Ideen nicht von vornherein ausschließen, sagte Kretschmann. Überbewerten solle man den Punkt allerdings auch nicht. "Der ist sehr vorraussetzungsreich, auch was Verhandlungen betrifft", sagte er. Vieles müsse geklärt werden. Geht es um Menschen, die noch nicht in Europa seien? Oder auch um solche, die es schon wären? Zudem müsse ein Land gefunden werden, in dem die Verfahren durchgeführt werden könnten. 

Das wird nun geprüft, der Arbeitsauftrag steht. Es ist ein kleiner Achtungserfolg für die Union: Zwar ist schon im Ampel-Koalitionsvertrag die Prüfung der Drittstaatenlösung festgeschrieben, allerdings nur "in Ausnahmefällen". Nun soll erörtert werden, ob auch am größeren Rad gedreht werden kann.

Schon weiter als Wüst und Scholz ist Italien, das auf albanischem Boden zwei Aufnahmezentren für Migranten errichten will, die über das Mittelmeer gekommen sind. Dort sollen ihre Asylanträge geprüft werden. Premierministerin Georgia Melone schafft mit dem Deal Fakten – die nicht unumstritten sind. Die EU-Kommission hat von der Regierung in Rom "detaillierte Informationen" zu dem Abkommen verlangt. Die Details müssten geprüft werden, hieß es.