Zwischenruf Die schwarze Option

Ein Opfer für Europa? So stellt der Kanzler den Abgang seines Außenministers dar. Man kann ihn auch anders sehen - als Schachzug für einen Koalitionswechsel. Aus stern Nr. 22/2003

Warum bloß? Warum lässt der Kanzler seinen besten Mann ziehen? In einer Lage, die schwieriger nicht sein könnte: Die Wirtschaft kippt in die Rezession, die Arbeitslosenzahl wuchert gegen fünf Millionen, Rente und Gesundheit gieren nach noch höheren Beiträgen, der Staat starrt in den Abgrund von 126 fehlenden Steuermilliarden, und die Regierungspartei SPD tastet sich durch den finstersten Kohlenkeller der Demoskopie. Mitten in dieser anschwellenden Katastrophe gibt Gerhard Schröder seinem Joschka Fischer einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, nennt ihn eine "glänzende Besetzung" für das Amt des europäischen Außenministers und seufzt "mit einem lachenden und einem weinenden Auge", wenn solche Ehre für Deutschland winke, dürfe er selbst "nicht egoistisch" sein.

Ach, ja. Wirklich ergreifend. Sofern man an den Idealisten im Politiker glaubt. Tun Sie das noch, sollten Sie hier aufhören zu lesen. Und sich dem Raunen des reinen Herzens hingeben. Dann durchleben Sie dieser Tage den wahrhaft schönen Roman einer selbstlosen Freundschaft. Tun Sie es indes nicht, weil Sie die Wirklichkeit immer wieder - nein: des Besseren können wir nun wirklich nicht sagen, also schreiben wir höflich: des Schlitzohrigeren belehrt, dann sollten Sie statt des gläubigen Herzens Ihr misstrauisches Hirn in Gang setzen. Und der Fährte einiger Überlegungen folgen.

Junge, ich versteh dich

Haben wir den Kanzler nicht als jemanden kennen gelernt, dem wenig wichtiger ist als sein eigener Erfolg? Und nun gibt er Fischer frei! Unterstellen wir ruhig, dass beide einen sicheren Instinkt für Macht haben. Unterstellen wir zweitens, dass beide genau erkennen, wie verdammt knapp sie die vergangenes Jahr noch einmal verteidigt haben und wie rasant die nun in der ökonomischen Krise zerbröselt. Unabwendbar vielleicht. Also beschließt der eine, sich abzusetzen von dem dümpelnden Dampfer. Mag sein, dass der andere, der Kanzler, in einer Minute resignativer Gefühligkeit sagt: Junge, ich versteh dich. Gott befohlen. Mich wird?s wohl reißen - und 2006 will ich sowieso nicht mehr antreten.

Die Krise wird die große Koalition auf die Agenda setzen - die Agenda 2004

Mag aber auch sein, dass der andere ganz anders kalkuliert -und der eine das genau begreift. Und hier wird‘s wirklich spannend. Dass Gerhard Schröder seinen Fischer nämlich weglobt, um sich vor dem Schlund der Krise eine womöglich lebenswichtige Option zu eröffnen: die auf eine große Koalition. Denn wollte er im kommenden Jahr mit der Union zusammengehen, dann müsste er seinen Vizekanzler vor die Tür setzen - den angesehensten deutschen Politiker. Ein mächtiges Geschrei würde anheben: Verrat! Kräfte- und nervenzerfetzend.

Wenn aber spätestens im Frühsommer 2004 klar wäre, dass Fischer nach Brüssel wechselt, dann würden die Grünen mit ihrer Nachfolgediskussion selbst überzeugend beweisen, dass sie erstens keinen angemessenen Ersatz zu bieten haben und zweitens überhaupt außerstande sind, das deutsche Schiff in diesem Sturm mit sicherer Hand zu steuern. Wir erinnern uns doch noch gut, dass Schröder schon immer ein heimlicher Anhänger der großen Koalition war. 1998 hat er sie gewünscht, 2002 erwartet.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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13 Wahlen werden die SPD schwer zerzausen

Und nun, da Wirtschaft, Sozialsysteme und Staat rundum erneuert werden müssen, nun wäre sie auch tatsächlich vonnöten. 13 Wahlen, dazu die Kür des neuen Bundespräsidenten, werden die SPD im kommenden Jahr schwer zausen, das ist unschwer zu erkennen. Die Europawahl im Juni, spätestens aber die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen im Herbst böten sich als Bruchpunkte für den Koalitionswechsel an. Die Probleme des Landes, der Druck der Wirtschaft, die Wut des Publikums über ermüdendes parteipolitisches Gezerre werden das Thema auf die Agenda setzen. Auf die Agenda 2004.

Und nun spinnen wir den Faden mal zu Ende. Warum sollte die Union die große Koalition wollen? Zum einen, weil auch sie unter Druck gerät - und sie der Reformstau selbst zermalmen könnte, wenn die dicksten Brocken nicht vor der Wahl 2006 abgeräumt sind. Zum anderen, weil 2004 für Neuwahlen, das heißt Wahlkampf und Regierungsbildung, in der Krise wenig Verständnis zu finden wäre. Und weil Angela Merkel als Berliner Fraktionschefin die natürliche Partnerin Schröders - oder Wolfgang Clements - wäre. Sie würde dann auch automatisch Kanzlerkandidatin 2006; Roland Koch wäre ausgeschaltet. Und in den zwei Jahren bis dahin wäre die Kanzlerschaft ja leicht zu teilen: ein Jahr SPD, ein Jahr CDU/CSU. Fischer sei Dank.

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Hans-Ulrich Jörges