Sitzung in New York Der Kanzler knallhart: Olaf Scholz' denkwürdige drei Minuten im Sicherheitsrat

Rede vor der UN-Vollversammlung: Scholz pocht auf Reform des UN-Sicherheitsrat
Sehen Sie im Video: Rede vor der UN-Vollversammlung – Scholz pocht auf Reform des UN-Sicherheitsrat.




STORY: Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich in seine Rede vor der UN-Vollversammlung für eine Reform des UN-Sicherheitsrates ausgesprochen. Die aktuelle Zusammensetzung mit den USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien sei überholt, sagte der Kanzler in der Nacht zu Mittwoch in New York. "Eine weitere Zukunftsfrage ist, wie die Vereinten Nationen selbst die Realität einer multipolaren Welt abbilden. Bisher tun sie das nicht ausreichend. Nirgendwo ist das so augenfällig wie bei der Zusammensetzung des Sicherheitsrats. Deshalb freue ich mich, dass immer mehr Partner, darunter drei der ständigen Mitglieder, erklärt haben, in der Reform Frage vorankommen zu wollen. Klar ist doch Afrika gebührt mehr Gewicht, so wie auch Asien und Lateinamerika." Scholz sagte, niemand sollte sich einer Reform des Sicherheitsrates widersetzen: "Solche ergebnisoffenen Verhandlungen sollte kein Land mit Maximalforderungen blockieren. Auch wir tun das nicht. Letztlich liegt es in der Hand der Generalversammlung, über eine Reform des Sicherheitsrates zu entscheiden. Bis dahin möchte Deutschland als nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrates Verantwortung übernehmen. Und ich bitte Sie, unsere Kandidatur für die Jahre 2027/28 zu unterstützen." Hintergrund der Forderungen ist eine ablehnende Haltung von Russland und China. Theoretisch können sie ein Veto gegen eine Veränderung der Zusammensetzung einlegen. Die Reform wird deshalb seit Jahrzehnten blockiert. Deutschland strebt zusammen mit Indien, Brasilien und Japan mit Rahmen der sogenannten G4-Gruppe einen ständigen Sitz an.
Die Vereinten Nationen diskutieren den Krieg in der Ukraine. Es zeigt sich, dass Russland nur noch wenige Freunde hat. Und Deutschland gehört eindeutig nicht mehr dazu

Es ist 11.05 Uhr in New York, als Edi Rama eine denkwürdige Sitzung des UN-Sicherheitsrates eröffnet. Albanien hat in diesem Monat den Vorsitz, und Premierminister Rama mit seinem weißen Bart und seiner sonoren Stimme wirkt wie erfunden für die ehrenvolle Aufgabe, die er an diesem Tag zu erledigen hat.

Dazu wird später auch gehören, dem Bundeskanzler aus Deutschland das Wort zu erteilen. Und Olaf Scholz, der wie einige andere Redner von Rama zu dieser Sitzung als Gast eingeladen wurde, wird die Gelegenheit nutzen, um eine bemerkenswert deutliche Ansprache zu halten. Kann gut sein, dass Wladimir Putin ihn verärgert danach fragen wird, wenn die beiden das nächste Mal telefonieren.

Es geht einmal mehr um die Ukraine an diesem Tag. Der russische Angriffskrieg, man muss es so sagen, geht manchen Staaten auf die Nerven, weil er viele andere Konflikte und Probleme überlagert. Trotzdem soll am Rande der UN-Vollversammlung noch einmal ein Zeichen gesetzt werden – ein Zeichen vor allem dafür, dass Russland auf der Welt nur noch wenige Freunde hat. Sehr wenige sogar, aber eben auch mächtige. Deutschland gehört nicht mehr dazu. Und diese Wandlung spielt in den nächsten Stunden immer wieder eine Rolle, noch bevor der Kanzler überhaupt etwas gesagt hat.

Vor 20 Jahren ging es hier auch um Krieg und Frieden – damals mit Joschka Fischer

Der Sicherheitsrat hat schon viele dramatische Sitzungen zu Krieg und Frieden erlebt – auch unter deutscher Beteiligung. 2003 war Deutschland für ein Jahr nicht-ständiges Mitglied, und Außenminister Joschka Fischer führte sogar den Vorsitz, als der damalige US-Außenminister Colin Powell seine 90-minütige Rede über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak hielt. Die Beweise waren die Grundlage für den amerikanischen Angriff, erwiesen sich aber später als falsch, und Powell räumte gegenüber dem stern ein: "Es war eine der größten Enttäuschungen meines Lebens. Ich habe an diese Beweise geglaubt."

Eindeutigkeit, das ist auch ein Thema in der Sitzung rund 20 Jahre später. Zunächst geht es um Formalia. Der russische UN-Botschafter protestiert dagegen, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi früh in der Sitzung das Wort erhalten soll. Doch Edi Rama hat seine Paragrafen beisammen und erteilt dem russischen Botschafter eine kleine Lektion. Der aber gibt nicht nach, bis ihn Rama endgültig auskontert: Wenn der Botschafter nicht wolle, dass der ukrainische Präsident auftrete, müsse Russland nur den Krieg in der Ukraine beenden. Dann gebe es auch keinen Grund mehr, Selenskyi einzuladen.

Selenskyi beklagt "zu viel Rhetorik und zu wenig Lösungen"

Was folgt, ist eine Serie heftiger Anklagen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres wirft Russland Menschenrechtsverletzungen vor und eine Blockade von Getreideexporten aus der Ukraine, die in vielen Ländern zu Notlagen bei der Ernährungsversorgung führe. Der Krieg führe zu "grenzenlosem Leiden" und müsse enden. Dann spricht Selenskyi: Russland habe Zehntausende Menschen getötet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht. Damit würden alle internationalen Regeln unterlaufen. Die große Mehrheit der UN sehe Russland als Aggressor, doch das habe an der Lage nichts verändert. Es gebe zu viel Rhetorik und zu wenig konkrete Lösungen.

Selenskyi fordert eine UN-Reform, die Russland das Veto-Recht nimmt. Das ist eine Illusion, und wahrscheinlich weiß er das auch. Um trotzdem für eine solche Reform zu werben, schmeichelt Selenskyi vielen Unterstützerstaaten, die nicht im Sicherheitsrat vertreten sind. Auch Deutschland solle einen ständigen Sitz bekommen, fordert Selenskyi. Und die Begründung, die er liefert, dürfte manchen deutschen Kritiker der Scholz'schen Ukraine-Politik überraschen: Deutschland, sagt Selenskyi, sei ein Schlüsselstaat bei der Sicherung von Frieden und Stabilität geworden. "Das ist eine Tatsache."

Dann sitzt plötzlich Sergei Lawrow am Tisch – und schimpft zurück

Auch die nächsten Redner nehmen kein Blatt vor den Mund. Wieder geht es um Eindeutigkeit, diesmal was die Situation in der Ukraine angeht. Angreifer und Opfer müssten klar benannt werden, sagt Edi Rama, der jetzt nicht als Vorsitzender spricht, sondern als albanischer Ministerpräsident. Auch die Präsidenten Ecuadors und Ghanas verurteilen den russischen Angriffskrieg. Selbst die Schweiz, die sich in konkreten Fragen gerne hinter ihrer Neutralität versteckt, fordert den Rückzug russischer Truppen. Japans Premier erzählt von seinen Besuchen in Kiew und Butscha. "Ich werde die herzzerreißenden Gefühle nicht vergessen, die ich dort hatte", sagt Fumio Kishida. Malta stellt sich auf die Seite der Ukraine, Gabun, Großbritannien, manche deutlicher, manche etwas vorsichtiger. Der russische Botschafter hat den Raum längst verlassen. Der Vertreter der Regierung in Moskau lässt sich jetzt selbst vertreten.

US-Außenminister Anthony Blinken kritisiert Russland besonders vehement. Man könne sich kein Land vorstellen, das mehr Verachtung für die Vereinten Nationen zeige, "in allem, wofür es steht". Und dann sitzt da plötzlich Sergei Lawrow, nicht weit von Blinken. Russland hat jetzt das Wort, und Lawrow schimpft zurück.

Das eigentliche Problem der Vereinten Nationen sei die Dominanz der Vereinigten Staaten, mit der sie die internationale Ordnung erschüttert hätten. Die USA und ihre Partner hätten sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt. Die ukrainische Regierung habe nie vorgehabt, die Minsker Vereinbarung, vermittelt von Deutschland und Frankreich, umzusetzen. Die "Neonazi-Regierung" um Selenskyi in Kiew vertrete nicht die Bevölkerung auf der Krim und im Donbass und gehe gegen die russische Bevölkerung mit rassistischen Gesetzen vor.

Das Veto-Recht wird sich Russland nicht nehmen lassen

Der Westen sei auf den Prinzipien der UN-Charta und auf der internationalen Ordnung "herumgetrampelt". Deutschland und Frankreich, einst mit Russland Gegner des Irak-Kriegs, würden heute auch nur noch jene einladen, "die gehorchen". Nun nehme eine aggressive westliche "Clique" das Veto im Sicherheitsrat ins Visier. Das Veto sei aber ein legitimes Mittel, um die Teilung der Vereinten Nationen zu verhindern – eine Meinung, die Lawrow nach vielen Rednern, die die Spaltung der UN durch das Veto beklagt hatten, exklusiv hat.

Anthony Blinken hat sich die ganze Rede seines russischen Kollegen angehört. Lawrow zeigt sich weniger höflich. Kaum ist er fertig, verlässt er wieder den Raum.

So entgeht ihm, sogar, wie China und auch Brasilien moderatere Töne wählen, als die Vorredner, sich für Verhandlungen einsetzen, ohne Russland die Verantwortung für den Krieg zu geben. Eine militärische Lösung für den Konflikt gebe es nicht. Deshalb müsse ein Waffenstillstand her.

Scholz: "Russische Truppen haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert"

Es ist diese Forderung, an die Olaf Scholz gleich anknüpfen wird, als er ziemlich genau drei Stunden nach Beginn der Sitzung das Wort erhält. Doch zunächst wählt der Kanzler deutliche Worte und wirft Russland "einen brutalen Angriffskrieg gegen seinen souveränen Nachbarn" vor. "Russische Truppen haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert", sagt Scholz. "Sie machen Städte und Dörfer dem Erdboden gleich. Sie verminen ganze Landstriche und verwandeln so Kornfelder in Todesfallen."

Der Grund dafür, dass das Leid in der Ukraine und überall auf der Welt andauere, sei "erschütternd einfach", beklagt der Kanzler: Russlands Präsident wolle seinen imperialistischen Plan zur Eroberung seines souveränen Nachbarn umsetzen.

Helfen Sie den Menschen in der Ukraine
Stiftung stern: Hier spenden

Dann geht Scholz auf die Forderungen nach einem Waffenstillstand ein. Er würdige die gute Absicht. "Wir alle wollen, dass das Töten aufhört – besser heute als morgen." Doch man müsse sich "vor scheinbar einfachen Lösungen hüten, die Frieden nur dem Namen nach versprechen", warnt der Kanzler: "Frieden ohne Freiheit ist Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit ist ein Diktat." Deshalb müsse ein Frieden gefunden werde, der die Prinzipien der UN-Charta akzeptiere.

Warum Baerbock nicht mit Lawrow reden wird

Es ist der letzte Auftritt, ehe Edi Rama die Sitzung für eine Pause unterbricht. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, Lawrow mal direkt anzusprechen? Weit kann er ja noch nicht sein. Doch dazu wird es nicht kommen. Außenministerin Annalena Baerbock war schon zu Beginn der UN-Woche nach solchen Gesprächsversuchen gefragt worden. Es habe sie immer wieder gegeben, hat Baerbock da berichtet. "Sie wissen aber: Bereits im letzten Jahr war das Interesse auch vom russischen Außenminister gleich null." Man habe immer wieder und auf verschiedenen Ebenen erlebt, dass schon aus der Vereinbarung eines Termins eine Show gemacht werden sollte. "Das erleben wir leider auch wieder hier. Deswegen wird es diese Treffen so nicht geben", sagt die Ministerin. Stattdessen sprechen an diesem Mittwoch nach der Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York andere miteinander: Olaf Scholz und Wolodymyr Selenskyj.

wue