Herr Bohlen, was läuft falsch in Deutschland? Alles. (Dieter Bohlen in "Gentleman‘s Quarterly", Neujahr 2003)
Das Krisensyndrom lässt sich physikalisch erklären oder psychologisch. Die Physik zuerst, denn die ist in unserem Fall bildhafter. In einer Vakuumkammer dehnen sich aufgeblasene Luftballons gewaltig aus - bis sie platzen. Wird ein ganzes Land zum geistigen und politischen Vakuum, können aufgeblasene Figuren überdimensionale Gestalt annehmen - und am Ende gleichfalls in 1000 Stücke zerspringen. Aber ums Platzen geht's uns hier nicht, sondern um die Leere und ums Anschwellen. Dialektisch betrachtet öffnet uns die plötzliche und unnatürliche Ausdehnung der Objekte mitunter erst den Blick dafür, dass sie vom reinen Nichts umgeben sind. Unser Leerraum heißt Deutschland. Und die Gestalten, die jenes Nichts kenntlich machen durch ihr eigenes blitzartiges Wachstum, sind Dieter Bohlen und Harald Schmidt.
Luftgefüllt ist in ihrem Fall keineswegs abwertend, sondern ausschließlich physikalisch gemeint. Der Rhythmen-Bäcker, den sie Pop-Titan nennen, und der Fernseh-Entertainer, den sich selbst intellektuelle Zeitgenossen nicht scheuen Gott zu nennen, sind beileibe keine Hohlfiguren, gefüllt mit warmen Gasen. Sie sind klug, sehr klug sogar. Ja, auch Herr Bohlen. Ihn als platten Helden verprollter Massen zu verachten wäre ein grobes Fehlurteil.
Klarer Blick für traurige Umstände
Beide haben einen klaren Blick für die traurigen Umstände, in die sie geworfen sind. Beide haben sich das Gigantenformat, zu dem sie aufgepumpt wurden, nicht ausgesucht. Beide genießen es, und beide leiden doch auch darunter, denn am Ende des deutschen Vakuum-Jahres 2003 sind sie bis zum Zerplatzen angeschwollen.
Der eine, Bohlen, ist der Liebling der Massen, die Stimme des Volkes - Ersatzkanzler, Ersatzmanager und Ersatzidol in einem. Der andere, Schmidt, ist der Götze der Gebildeten, die freche Schnauze des Widerstands - Oppositionsführer, Systemkritiker und Kulturanarchist im Fernsehformat. Beide geben das Modell ab für den Politiker der Zukunft: die Ich-AG, nur sich selbst verpflichtet, tabufrei, gierig und rücksichtslos bis zur Brutalität. Die Medien haben ihre Wahl getroffen: "Bild" wählt nicht Schröder oder Merkel, "Bild" wählt mit sicherem Instinkt Bohlen.
Und Katja Kessler, die Frau des Chefredakteurs, wird zur Kanzlerberaterin, negert Bohlens Bestseller. Die "FAZ" wählt nicht Enzensberger oder Grass, die "FAZ" wählt in elitärer Selbstunterwerfung Schmidt. Und Frank Schirrmacher, der Herausgeber fürs Nachdenkliche, lässt zu Schmidts Abgang bei Sat 1 ganzseitig Staatstrauer flaggen im Aufmacher des Feuilletons: "Während er fürs Denken pausiert, pausiert für uns das Denken." Mit vergleichbarem Bombast wurde zuletzt Stalins Tod in der kommunistischen Welt zelebriert. Damals hörte das Herz des Proletariats auf zu schlagen. Heute beweinen die Intellektuellen den eigenen Hirntod. Und keiner erhebt sich dagegen vom Totenbett.

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Still, aber geschwätzig
Das Denken pausiert schon länger in Deutschland. Und nicht nur das Denken. Das Land steht. Still, aber geschwätzig. Der Reform-Voodoo am Jahresende ist nicht mehr als ein mattes Erzittern. Danach, in den 14 Wahlkämpfen des neuen Jahres, wird wieder alles beim Alten sein. Grell überschminkte Feigheit. Die Gesetze der Ökonomie diktieren nicht weniger als die Neugründung eines erstarrten Landes - erstarrt durch die Pervertierung der Sozialsysteme ins Unsoziale, die Infizierung der Wirtschaft mit der bürokratischen Sklerose des Staates, die Verirrung der Politik im Gestrüpp des Konsens-Dschungels. Die Ökonomen missionieren die Politik - und alle anderen wenden sich ab.
Volk im Wahn, darüber ließe sich reden
Die Großdenker der Siebziger und Achtziger sind erfüllt vom Ekel vor der Ökonomie, die Feuilletons beschweigen die Grundsteinlegung für eine andere Republik. Kein Diskurs, nirgends. Theater, Literatur und Film gehen Alltagsgeschäften nach. Der verwaiste deutsche Pavillon auf der Biennale in Venedig dokumentiert unter den Augen des Auslands ästhetische Erschöpfung - erhellender können die Künste nicht für ein Land sprechen. Deutschland ergibt sich der Notwendigkeit zum ökonomischen Umsturz, resignierend. Wirklich überzeugt ist es nicht, schöpferisch inspiriert schon gar nicht.
Alternativen existieren nicht mehr - worüber also diskutieren? Rechts, links - lechts, rinks - terchs, klins: alles wurscht. Perdu, vergangen, versunken. Politik ist nur noch Wettbewerb ums bessere Management. Ratlosigkeit und Resignation regieren. Und die Politik kann sich nicht mehr verständlich machen, der dilettantische Aktionismus der Regierung mündet in eine Katastrophe der politischen Kommunikation. Glaubwürdigkeit, Vertrauen? Erinnerungen an glückliche Tage des alten Systems. Man wendet sich ab. Und die Fassaden wackeln. In Bayern holt die CSU satte 60 Prozent - aber nur noch bei denen, die überhaupt zur Wahl gehen. Wer genauer hinschaut, erkennt, dass nicht mehr als 34 von 100 Wahlberechtigten bei der Bayernpartei ihr Kreuz gemacht haben, elf bei der SPD.
Volk im Wahn
In Brandenburg sackt die Beteiligung an der Kommunalwahl gen 40 Prozent. "Globalisierung! Globalisierung! Das ist ein Zauberwort, eine Mehrzweckwaffe, um Löhne, Steuern, Sozialabgaben zu senken", wütet als Letzter der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach gegen die Diktatur der Notwendigkeit. Eine Alternative kennt auch er nicht, flüchtet ins Wolkenreich der Psychologie: "Es ist ein Wahn." Volk im Wahn - darüber ließe sich reden.
Dieter Bohlen offeriert den Heerscharen der Leidenden und Verwirrten Zuflucht in seiner Parallelwelt der Pop-Politik; Harald Schmidt wird zum Alltagspartisanen der klügeren Kreise. Bohlen ist hochpolitisch, von Anfang an. Schon im Januar gibt er seine Regierungserklärung ab. "Wer arbeitslos ist und Schröder gewählt hat, weil er nett ist, darf sich nicht beklagen", sagt er im Interview mit "GQ". Stoiber? "Ein richtig flauschiges Rumgeeier." Und: "Du kannst hinschauen, wo du willst, die Strukturen sind unheimlich verkrustet. Also? Ein bisschen Stroh hochschmeißen, damit Luft drankommt." Er schmeißt.
Intellektuelle beweinen den eigenen Hirntod
Deutschland sucht den Superstar - das Motto der Musikshow wird zum Motto einer verirrten Gesellschaft, der Nummer-eins-Hit "We have a dream" zu ihrer Hymne. Was die Politiker verweigern, Wahrheit und Klarheit, lebt Bohlen auf RTL vor, wenn er seine Kandidaten prollig-saftig abfertigt: "Man hat das Gefühl, du kotzt gleich in die Tonne" oder "Du stehst da wie eine festgetackerte Fleischwurst". Der Mann weiß, was er tut. "Wir haben genug Schleimer im Fernsehen", spricht er fürs Volk. Und: "Es gibt heute viele Menschen, die sagen: Wir wollen jetzt die Wahrheit." Auf die Politik übertragen hieße das etwa, dass Frau Merkel den Kanzler im Bundestag zur Rede stellt: "Herr Schröder, warum sind Sie eigentlich auf Schritt und Tritt von Weinflaschen umgeben - wird Deutschland von einem Alkoholiker regiert?" oder umgekehrt der Kanzler die CDU-Vorsitzende: "Frau Merkel, finden Sie es nicht infam, dass Sie alles dafür tun, damit Wolfgang Schäuble nicht Bundespräsident wird?"
Der Fortgang des Jahres und die anschwellende Verzweiflung der Deutschen ließen sich leicht in Bohlen messen. Es ist die neue Maßeinheit auf der nach oben offenen Skala politischer Enttäuschung. Der Gambler aus Tötensen spielt damit, die Werbung wird sein Bundestag. Er gründet eine "Müller-Partei" - Motto: "Unser Land soll becher werden" -, und als im Werbespot eine Parlamentsdebatte nachgestellt wird, bei der ein "Abgeordneter" Milchreis löffelnd verkündet: "Jetzt brauch ich endlich mal was Ehrliches", flippen die Berliner Zelebritäten aus. Exakt so verbiestert, wie sie das Volk im Zerrspiegel ihrer Rituale erkennt: "Verunglimpfung eines Verfassungsorgans!"
Was er anfasst, wird zu Gold
Das ist vor allem ein Ko-Sieg für Bohlen. Im Oktober beherrscht er die Frankfurter Buchmesse, im November ersetzt er den abwesenden Kanzler auf dem Berliner Presseball und rückt dem Bundespräsidenten zu Leibe. Bohlen wird geliebt dafür. Wenn er in der Lufthansa-Lounge sitze, bäten ihn "Männer im Nadelstreifenanzug um ein Autogramm". Auch deren Held ist er schließlich geworden. Was er anfasst, wird zu Gold - was die Daimlers, Telekoms und Thyssens anschieben, eher zum Problem. "Es gibt nur mich und mein Handy", sagt er. "Bei jedem Projekt, egal, ob Buch oder Popsong, überlege ich mir vorher, wie ich die Menschen erreiche." Lernen könnten davon beide: Politiker und Manager. Nur ein einziges Mal verstößt er gegen die selbst gesetzte Maxime ("Mein Erfolg ist, dass ich wie die Masse fühle"), als er bei Gottschalk daherredet wie Westerwelle aus der Westentasche - und ausgebuht wird.
Die Leipziger Uni bietet ihm eine Honorarprofessur für Betriebswirtschaft an. Ein Mitarbeiter des niedersächsischen Ministerpräsidenten besucht ihn daheim, um zu schauen und zu begreifen. Auf der Straße fragen ihn Menschen, ob er nicht Kanzler werden wolle. "Ich habe geantwortet: Mann, bist du denn vollkommen bescheuert? Aber er sagte: Ich fänd‘s klasse." Volk im Wahn. Bohlen vor dem Platzen. "GQ" lässt ihn von einer Jury zum "Mann des Jahres" wählen, er fantasiert von einer Comedyshow "Deutschland sucht den Superkanzler": "Der Kanzler wird gecastet. Wir machen dann verschiedene Mottoshows: Arbeitslosigkeit, Gesundheit." In der Jury säßen Wissenschaftler und Psychologen, "die einen Charaktercheck machen". Sonntagabends ausgestrahlt - das wäre das Ende von Sabine Christiansen.
Und eine echte Konkurrenz für Harald Schmidt im Feuilleton. Womöglich würden sich die "Agenten des wilden Denkens" ("FAZ") einen anderen Fixstern suchen. Wie auch immer: Nichts spricht am Ende dieses angeblichen Reformjahres dafür, dass sich das deutsche Vakuum demnächst mit anderem füllt als mit Ballons. Und dass die anderes enthalten als einen Hauch von Wahn.
Gleich geht es prickelnd weiter mit Schöfferhofer Weizen und TV-Spielfilm.