Zwischenruf Franz "Münte" Marx

Mit seiner Agitation gegen die "Macht des Kapitals" löst sich der SPD-Vorsitzende vom Kanzler - um die Sozialdemokraten in die Opposition hinüberzuretten. Aus stern Nr. 17/2005

Sie beiden dementierten sich gegenseitig, am selben Tag, spektakulär, vor großem Publikum. Franz Müntefering las in der Parteizentrale sperrige Vokabeln tonlos und stockend vom Blatt, von einschlägig geschulten Referenten für die große ideologische Wende des kleinen Vorsitzenden historisch entstaubt: wider die "wachsende Macht des Kapitals", wider "international forcierte Profitmaximierungsstrategien", wider die "totale Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns": "Sie kalkuliert die Menschen zwar ein, aber nur in Funktionen, als Größe in der Produktion, als Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt."

Gerhard Schröder tanzte derweil, als sei ihm die Rolle des Kronzeugen für das Sozialistische Manifest von Franz ("Münte") Marx zugedacht, auf einer Konferenz zur Melodie ebenjenes menschenverachtenden Kapitals, das selbst vor der Ökonomisierung der deutschen Familie nicht zurückschreckt: "Familie - Erfolgsfaktor für die Wirtschaft" lautete das Motto des Arbeitgeber-Auftriebs, und der Kanzler dozierte, ganz im Jargon forcierter Profitmaximierung, mit jedem unerfüllten Kinderwunsch gehe "ein möglicher Leistungsträger verloren", denn "die wirtschaftliche Kraft des Landes É liegt in unseren Kindern". Es war Mittwoch, der 13. April, und das verblüffte Volk konnte die Spaltung der Sozialdemokratie zwischen Macht und Moral, Kapital und Arbeit, Gerd und Franz abends auf dem Fernsehschirm bestaunen. Gründlich verwirrt. Auftakt eines Machtkampfs oder augenzwinkerndes Doppelspiel? Politischer Ernstfall oder wahltaktischer Scherz im April? Marx oder Marx Brothers?

Es spricht mehr für einen schwarzen Mittwoch der Sozialdemokratie, für ein Schisma zwischen den seit mehr als einem Jahr, als Parteivorsitz und Kanzlerschaft getrennt wurden, eisern diszipliniert miteinander kämpfenden Spitzenmännern. Dem Tandem von Gerd und Franz ist die Kette gerissen. Mehr denn je gilt, was Müntefering schon vergangenes Jahr im stern-Gespräch verkündet hatte: "Ich bin der Parteimann, er ist der Kanzler. Wir haben unterschiedliche Aufgaben. Er muss das Interesse des Landes im Blick haben, ich das Interesse der Partei. Dazwischen gibt es breite Schnittmengen." Nun werden diese Schnittmengen schmal. Denn nun wird es ernst für die SPD. Und wenn es ernst wird, denkt der eine an die Partei. Und der andere an sich selbst. Müntefering tut, was er will und für richtig hält. Schröder tut, was er will und für richtig hält. Bleibt es dabei - und Müntefering legt rhetorisch nach -, haben die SPD und ihr Kanzler keine stimmige, Vertrauen erweckende Welterklärung mehr. In der vergröbernden Sicht des Publikums: Kritiker des Kapitals der eine, Knecht des Kapitals der andere.

Selbst bei kurzfristiger Betrachtung, und allen Vernebelungsversuchen zum Trotz, passen die Strategien der beiden nicht mehr zueinander. Kurzfristig, das heißt: bis zum heraufziehenden Infarkt in der Herzkammer der Sozialdemokratie, am 22. Mai in Nordrhein-Westfalen. Müntefering diagnostiziert die Wirkungslosigkeit Schröderschen Reformkurierens - anhaltend spärliches Wachstum bei unvermindert hoher Arbeitslosigkeit, aber gewaltig wachsenden Konzern-Gewinnen - und versucht zu retten, was zu retten ist. Bis hin zur Selbstverleugnung, zur Verdrängung eigener Einsicht und Propaganda für Schröders Agenda-Therapie. Der Parteichef legt Bypässe: Rotes Traditionsblut soll ermattete Stammwähler in Wallung bringen, zur Stimmabgabe für die SPD. Und der neuen Linkspartei, die mit Oskar Lafontaine endlich einen Kopf hätte, die Versorgung abschneiden. Ein Kampf um jedes Prozent.

"Der eine gibt das vaterlandslos gierige Kapital der Verachtung preis, der andere weiht BilliglohnZweigwerke in Indien ein"

Das Unbehagen am unersättlichen Kapital ist groß. Der Kanzler spielt damit behutsam - und kann links nichts gewinnen. Der Parteichef peitscht es rabiat - und Peer Steinbrück, Schröders bedrängter Wiedergänger in Düsseldorf, verliert in der Mitte. Die Wähler sind klug, sie erkennen die Widersprüche. Zwischen dem einen, der das vaterlandslos gierige Kapital der Verachtung preisgibt. Und dem anderen, der ihm die Steuern senkt, den Kanzler-Airbus mit Kapitalisten füllt und deren Billiglohn-Zweigwerke in China und Indien einweiht.

Der Parteichef weiß das. Seine Strategie zielt weit über Nordrhein-Westfalen hinaus. Müntefering entwickelt und probt die Rhetorik der Opposition. Er gibt den Widerpart zu Horst Köhler, dem Präsidenten, der mit seiner Vorfahrt-für-Arbeit-Rede das Konzept für Wahlkampf und Regierungsprogramm der Union präsentiert hat. Verliert die SPD nach Nordrhein-Westfalen auch die Macht im Bund, 2006 oder früher bei Neuwahlen, will Müntefering zweierlei erreicht haben: Sicherung vor linker Konkurrenz Lafontaines und Sammlung der Geschlagenen auf oppositionsfähigem Terrain. Die SPD wird ihm folgen, nach und ohne Schröder. So sieht er seine historische Aufgabe. Bevor er selbst abtritt, Ende 2007.

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Hans-Ulrich Jörges