Für die SPD hat eine neue Ära begonnen. Es ist die Ära nach Schröder. Und nach Müntefering. Es ist die Ära des Neuaufbaus einer zertrümmerten Partei. Die Ära eines Generationswechsels. Eines klaren, tiefen Schnitts. Der 13. Juni 2004, der Tag der Europawahl mit der auf 20 Prozent plus x gedemütigten Sozialdemokratie - einer SPD, die sich als Volkspartei im Misstrauen des Volkes auflöst wie Hühnerfleisch in Salzsäure -, ist der Beginn dieser neuen Zeitrechnung. Die SPD ist todkrank. Aber sie kann, sie wird leben. Bloß anders. Durch andere.
Es sind noch Namenlose. Oder Semiprominente aus der zweiten und dritten Reihe. Frustrierte, Beschädigte, Abgestrafte, Schlummernde. Solche, die den Zeitenbruch erkennen. Jetzt. Den Mut zur Ehrlichkeit aufbringen. Die Courage, schönfärberischem Opportunismus zu widerstehen. Den Charakter, Ausgrenzung und Anfeindung zu ertragen. Die Kraft, Resignation in Leidenschaft zu verwandeln. Es sind solche, die sich der Verkleisterung der Verhältnisse verweigern und den Auftrag zum Neuaufbau, zur Wiederbelebung der SPD annehmen. Ein Netzwerk der Erneuerung knüpfen. Und handeln.
Partei am Rand des Ruins
Die Generation der Enkel Brandts, die leichthin und fälschlich 68er genannt werden - das Revoluzzertum ihrer maulheldischen Fraktionskämpfe verließ niemals die warmen Säle bezahlter Juso-Kongresse -, hat die Partei an den Rand des Ruins geführt. Sie ist gescheitert. Hat abgedankt. Oskar Lafontaine zuerst. Er wurde Opfer verletzter Eitelkeit und entnervender Intrige. Rudolf Scharping als Zweiter. Er endete nach politischer Verharzung und moralischer Entwurzelung als wahnhafter Irrläufer. Zuletzt Gerhard Schröder. Er machte das Spiel mit Bildern und Images, mit Kraftakten, Chefsachen und symbolischen Inszenierungen zum trügerischen Wackelbild einer Kanzlerschaft. Zum Schluss so flirrend und unberechenbar, dass ihm weder das Volk noch seine entmündigte, sedierte und in Gehorsam gepresste Partei über den Weg traut.
1998, als sie Helmut Kohl stürzten, waren die drei nach Willy in Wahrheit ohne Programm angetreten. Das Programm waren sie selbst, ihr Ehrgeiz, ihre Anmaßung, die Verheißung ihrer Jugendlichkeit. Als Schröder, nach fünf Jahren, endlich die Probleme des Landes zur Kenntnis nahm, war seine aus Verzweiflung gezimmerte Agenda 2010 nur noch Dementi alles Vorangegangenen - und unerklärtes, unvollendetes Stückwerk. Zusammengenagelt durch Rücktrittsdrohungen, unablässig erschüttert durch handwerkliches Versagen.
Schröders Ära ist vorrüber
Diese Ära ist vorüber. Mag kommen, was will. Neues Kabinett, neue Themen, neue Bilder - der zweite rot-grüne Reformkonvent in Neuhardenberg, das letzte Aufgebot im Kabinett, der Glanz von Fußball-WM und Weltwirtschaftsgipfel 2006 -, die bohrende Sinn- und Vertrauensfrage an die Sozialdemokratie wird dadurch nicht beantwortet. Ob Schröder vorzeitig aufgibt, ob er die Wahl in zwei Jahren verliert, ob Krieg oder Katastrophe noch einmal seine Kanzlerschaft retten - das Nachdenken über die Nachfolge beherrscht nun die Tagesordnung. Die SPD hat eine neue Agenda, die Agenda 13. Juni. Sie ahnt oder weiß es: Mit Schröder sind alle Vergangenheit - Clement, Struck und die Übrigen. Auch Franz Müntefering, der nicht mehr sein kann als Übergangsvorsitzender, tragisch eingekeilt zwischen Ratlosigkeit und Loyalität.

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Auch Joschka Fischer ahnt, dass es zu Ende geht. Er schreibt seine Memoiren
Was Sozialdemokratie heißt in Zeiten gefährdeten Wohlstands, erschöpfter Umverteilung, das muss die nächste Generation entscheiden. Fortschritt und Gerechtigkeit, das waren die Lebensthemen der SPD, sie bleiben es auch für die nun folgende Trümmergeneration. Sie muss die Partei, der die Rathäuser, die Landesverbände und die Macht im Bund gleichzeitig einstürzen, von unten nach oben neu aufbauen, die Trümmer zur Seite räumen und die brauchbaren Steine neu verfugen. Offen, öffentlich, in fruchtbarem Streit. Programm schafft Perspektive, Perspektive besorgt Personal. Das braucht Zeit, denn die SPD hat die Zwischengeneration der 40 plus weitgehend an die Grünen verloren. Aber die Union wird dabei helfen, sobald sie das Land regiert - der schwarze Stein schärft das rote Schwert. Auch Schwarz braucht Rot - als Drohung, zur Selbstfindung.
Für Angela Merkel heißt die Agenda 13. Juni, im Kopf schleunigst ihr Kabinett zu bilden. Und für die Grünen, die Ära nach Rot-Grün zu denken. Joschka Fischer ahnt, dass es zu Ende geht. Er hat begonnen, seine Memoiren zu schreiben. 2006 könnten sie ein Bestseller sein.