Zwischenruf Schluss mit traurig!

Die Zeiten ökonomischer Apartheid müssen vorüber sein - bei boomender Wirtschaft haben die Arbeitnehmer wieder Anspruch auf höhere Einkommen. Aus stern Nr. 49/2006

Eine Nachricht rauscht vorbei. Kein Parteitag diskutiert sie, kein Minister greift sie auf, kein Manager errötet ihretwegen öffentlich. 27 Prozent der Deutschen, erfragte das Forsa-Institut vergangene Woche für den stern, bekommen dieses Jahr gar kein Weihnachtsgeld mehr von ihrem Arbeitgeber, 12 Prozent erhalten weniger als vor einem Jahr. Macht zusammen fast 40 Prozent. Während die Konjunktur brummt wie seit sechs Jahren nicht mehr. Während die Börse ein Fünfjahreshoch feiert. Während Aktionäre Kurse zu Kasse machen. Während Konzerne Rekorddividenden ausschütten. Eine bedrohliche Kluft. Empörung über Ungerechtigkeit lodert darin - zwei Drittel der Deutschen sind inzwischen davon erfasst. So viele wie noch nie. Und die Enttäuschung über eine Politik, die solche Zustände hinnimmt, wuchert derart, dass die Demokratie Schaden nimmt. Mehr als die Hälfte der Deutschen zweifeln heute an ihr. So viele wie noch nie.

Es ist Zeit für eine neue gesellschaftliche Verständigung. Für ein Aufbegehren des öffentlichen Gewissens. Für die Besinnung auf Fairness und Teilhabe. Denn die Deutschland AG hat nicht nur Aktionäre, sie hat auch Arbeiter und Angestellte, Ingenieure und Forscher. Ja, man traut es sich kaum noch zu sagen: auch tüchtige Beamte. Ohne die speicheln Aktionäre Knäckebrot. Ohne die werden Volksparteien zu Parteien ohne Volk. Deshalb regt sich ja nun auch etwas. Die Parteien entstauben ihr soziales Gewissen. Das jahrzehntelange Zaudern vor der Beteiligung von Arbeitnehmern an Gewinnen und Kapital ist in diesen Tagen zum Wettlauf geworden. Die CDU bekennt sich auf ihrem Dresdner Parteitag zu der Idee, die SPD beeilt sich, nicht als abgehängtes politisches Prekariat zu enden. Gut so. Aber zu wenig. Denn bevor sich der pure Wille materialisiert, bevor aus gut gemeinten Konzepten gut gemachte Gesetze werden, bevor aus Schlagzeilen nationale Verpflichtung wird, vergeht Zeit. Womöglich noch ein Wahlkampf.

Deshalb: Schluss mit traurig. Schluss mit ökonomischer Apartheid. Jetzt. Bei Löhnen und Gehältern. Tantiemen und Gratifikationen. Ganz Deutschland diskutiert über Gerechtigkeit in der Arbeitslosigkeit, über den Symbolwert der Bezugsdauer von Stütze. Welche Absurdität! Gerechtigkeit in der Arbeit ist das Thema unserer Tage. Schon die Ersatzdebatte bringt die erstarrten Verhältnisse zum Tanzen. Drei Punkte legt die Union von einer auf die andere Woche zu, springt von 29 auf 32 Prozent Zustimmung, holt enttäuschte Wähler zurück, bloß weil Jürgen Rüttgers für die CDU links blinkt und die Kanzlerin die Gewinn- und Kapitalbeteiligung zum Programm der Partei erhebt. Was könnte sich erst bewegen, wenn die Politik Unternehmer und Manager am Revers packte und die Zeit himmelschreiender Zumutungen für beendet erklärte. Wenn jene selbst wieder so etwas wie Ehrgefühl, Augenmaß und Verpflichtung in der Führung bewiesen. Es wäre die Erlösung von einem nationalen Albtraum. Und eine Befreiung für weitere unabweisbare Sozialreformen.

Denn die Wirtschaft hat ihre Schwitzkur hinter sich. Das Management großer Unternehmen ist verjüngt, die Betriebe sind flexibilisiert, und sie haben enorme Chancen auf dem Weltmarkt. Viele Belegschaften arbeiten länger und billiger. Im zu Ende gehenden Jahr, so schätzt der Sachverständigenrat, ist die Stundenproduktivität um zwei Prozent gewachsen, die realen Nettoverdienste aber sind um 1,7 Prozent geschrumpft. Abgesehen vom Jahr 2002 hätten die Tarifparteien den Verteilungsspielraum in den Jahren von 2000 bis 2006 niemals ausgeschöpft. Mit anderen Worten: Als es schlecht lief, hat das Volk verzichtet. Jetzt, da es wieder gut läuft, hat es Anspruch auf Respekt, Vorbild und Beteiligung am Erfolg.

Die Deutschland AG hat nicht nur Aktionäre, sie hat auch Arbeiter und Angestellte, Ingenieure und Forscher. Ja, auch tüchtige Beamte

Bundespräsident Horst Köhler sprach dieser Tage von Anzeichen für "Orientierungslosigkeit und gesellschaftliche Desintegration". Zweifel machten sich breit, ob der Mensch wirklich im Mittelpunkt stehe. Für viele sei "alles so in Unordnung geraten, dass man nicht mehr weiß, wo man eigentlich steht". Köhler fuhr fort: "Für Unternehmer heißt Vorbildsein in meinen Augen: etwas unternehmen, das Märkte und Belegschaft überzeugt; Maß und Mitte bei den eigenen Einkommen pflegen; auf ein gutes Miteinander im Betrieb achten; auch jenseits des Fabriktors Verantwortungsgefühl beweisen und deshalb nötigenfalls durchaus sogar: es öffentlich tadeln, wenn andere Unternehmer oder Manager den Hals nicht voll kriegen, wenn sie ihre Mitarbeiter zu bloßen Bilanzposten herabwürdigen." Denn das schadet sogar der Wirtschaft. Die Hans Böckler Stiftung hat ermittelt, dass Lohnkürzungen bei 45 Prozent der Arbeitnehmer ein geringeres Engagement für den Betrieb zur Folge hatten.

"Du bist Deutschland", lautete das Motto einer Kampagne für Zuversicht und Engagement. Ja, wenn das so ist, antwortet der Geduzte: Dann gebt mir auch meinen Anteil!

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Hans-Ulrich Jörges