Es war ein heißer Sommer, damals im August 1989. Und die Hoffnung für viele DDR-Bürger hieß in jenem Sommer 1989 Ungarn. Wie jedes Jahr machten sich tausende DDR-Bürger mit Zelt oder Wohnwagen nach Ungarn auf. Der Plattensee und die zahlreichen Campingplätze galten als die beliebtesten Urlaubsziele im ganzen Ostblock. Doch viele von ihnen wollten in diesem Jahr nicht mehr zurück. Das aufmüpfige Bruderland hatte bereits im Mai des Jahres begonnen, den "Eisernen Vorhang" zu Österreich abzubauen. Die Stimmung war angespannt. Die Oppositionsbewegung in allen sozialistischen Ländern war erstarkt, der Freiheitswille nicht mehr zu unterdrücken.
Im Mai 1989 fassten Mitglieder des oppositionellen Ungarischen Demokratischen Forums bei einem Abendessen die Idee, ein "Paneuropäisches Picknick" zu veranstalten. Als Ort der freundschaftlichen Begegnung zwischen Ost und West wurde Sopron, rund 200 Kilometer westlich von Budapest fast direkt an der österreichischen Grenze gelegen, ausgewählt. Am 19. August 1989 sollte am Ort des "Eisernen Vorhangs" ein Fest der Begegnung und des Freiheitswillens stattfinden. Für wenige Minuten sollte nach den Planungen der Organisatoren symbolisch die Grenze geöffnet werden. Eine österreichische und ungarische Delegation wollten sich am Ort der Teilung treffen.
Flucht hunderter DDR-Bürger
Tatsächlich durchstürmten an diesem Tag rund 600 DDR-Bürger unter den Augen ungarischer Soldaten die Grenze. Für wenige Stunden war das verwitterte Holztor an der Grenze nach mehr als 40 Jahren wieder offen. Damit war der Damm gebrochen. Hier begann der Fall der Berliner Mauer, sind sich im Nachhinein Zeitzeugen und Politiker einig. Erst am späten Nachmittag begannen die ungarischen Soldaten wieder mit strengen Passkontrollen.
Als im Frühjahr das Picknick verabredet wurde, war die sozialistische Staatengemeinschaft zwar schon angeschlagen, aber die Geschichte noch nicht geschrieben. Ungarn hatte den Schießbefehl außer Kraft gesetzt und damit begonnen, an der 350 Kilometer langen Grenze zu Österreich die elektronischen Grenzanlagen abzubauen. Ausreisewillige DDR-Bürger hatten in bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest Zuflucht gesucht. "Hier stehen Veränderungen unmittelbar bevor", beschreibt der Verleger und Autor, Christoph Links ("Chronik der Wende"), die Stimmung. Doch wie die Veränderungen aussehen würden, wusste zu diesem Zeitpunkt keiner.
Als schon Tausende die DDR verließen, ließ Staats- und Parteichef Erich Honecker noch starrköpfig verbreiten, keinem werde eine Träne nachgeweint. Immer offensichtlicher wurde, dass die "Betonköpfe" im SED-Politbüro den Kontakt zu ihrem Volk verloren hatten. Forderungen nach Reformen verhallten. Der oberste Machtzirkel hielt jedoch stur am offiziellen Kurs fest. Honecker behauptete sogar öffentlich, die Mauer werde noch in 50 bis 100 Jahren stehen.
Bonner Vertretung hoffnungslos überfüllt Ziel vieler Flüchtlinge war zunächst die bundesdeutsche Botschaft in Budapest. Mitte August 1989 musste die hoffnungslos überfüllte Bonner Vertretung in der ungarischen Hauptstadt geschlossen werden. Mehr als 180 Ausreiswillige harrten dort aus - mit ihrer Ungewissheit über das weitere Schicksal. Derweil warf Ost-Berlin der Bundesrepublik vor, den DDR-Bürgern widerrechtlich Aufenthalt zu gewähren. Das werde die Beziehungen belasten.
Schon zuvor war die Bonner Vertretung in Ost-Berlin für den Publikumsverkehr geschlossen worden - auch wegen Überfüllung mit DDR-Flüchtlingen. In den Verhandlungen mit der Bundesrepublik blieb die DDR zunächst hart. Bestenfalls Straffreiheit könnten die DDR-Bürger bei einer Rückkehr erwarten, eine "wohlwollende Prüfung" der Ausreise-Anträge wurde nicht zugesagt. Einige Flüchtlinge, die die Ungewissheit nicht ertragen konnten, kehrten nach Hause zurück.
Viele andere DDR-Bürger packten in den Sommerferien ihre Sachen, quartierten sich auf ungarischen Zeltplätzen ein und suchten dort zusammen mit Gleichgesinnten, Möglichkeiten für den Grenzübertritt. In kleinen Gruppen machten sich ganze Familien im Schutz der Dunkelheit auf, um die grüne Grenze zu überwinden. Beeinflusst von dieser Aufbruchstimmung warben die Initiatoren des "Paneuropäisches Picknicks" in ganz Ungarn für ihr Begegnungsfest. In den Tagen vor der Veranstaltung machten auf Campingplätzen Informationszettel die Runde. Angeschlagen an Bäumen hingen in Budapest Flugblätter mit dem Motto des Picknicks zur symbolischen Grenzöffnung: "Baue ab und Nimm mit".
Ergreifende Szenen nach Grenzübertritt
Eine Gruppe von mehreren hundert DDR-Bürgern hatte sich am Mittag des 19. August auf dem Festplatz für das Picknick gesammelt. Der Beginn der offiziellen Veranstaltung verzögerte sich, und so setzte sich die Menschenmenge schon vor der geplanten Grenzöffnung in Bewegung. Nach etwa einem halbstündigen Marsch war der Grenzzaun zu sehen. Noch unschlüssig blieben die Menschen stehen. Plötzlich durchbrachen einige von ihnen die Sperranlage.
Im Laufschritt rannten Jung und Alt, Mütter mit Babys auf dem Arm und Kinder querfeldein. Nach wenigen hundert Metern spielten sich auf österreichischem Boden ergreifende Szenen ab. Die Geflüchteten lagen sich mit Freudentränen in den Armen und konnten das eben Geschehene nicht glauben. "Bis zum letzten Moment hätte ich nicht gedacht, dass solche Massen von Menschen hierher kommen und hier probieren würden, in die ersehnte Freiheit zu gelangen", erinnerte sich Laszlo Magas, einer der Initiatoren.
Der Durchbruch war von den Veranstaltern des Picknicks nicht geplant gewesen. Auch heute noch denken sie, dass es nur ein "Nadelstich in den Luftballon des Systems" gewesen sei. "Das offizielle Programm wurde weggewischt: Aber wie sich später herausgestellt hat - ganz Europa auch", sagte eine Augenzeuge. "Sopron war der Vorraum zur Freiheit", hatte damals ein DDR-Flüchtling formuliert.
Nach der Massenflcuht war die Stadt Gießen für viele die erste Station im Westen: Sie kamen mit Bussen, mit dem Nachtzug aus Wien und später auch mit Trabis. Seit dem Mauerbau gab es in Mittelhessen - neben Berlin-Marienfelde - das bundesweit einzige Aufnahmelager für Flüchtlinge und Übersiedler aus Ostdeutschland. "Gießen war wohl die bekannteste West-Stadt in der DDR, der Name war ein Synonym für Freiheit", erzählt der damalige Leiter des Lagers, Heinz Dörr.
"Alles mit Trabis übersät"
Schon bei den Ausreisewellen 1984 und 1988 mussten die Gießener Mitarbeiter einen Ansturm von Neuankömmlingen bewältigen. Doch als Ungarn von Mai 1989 an den Stacheldraht einrollte und die Grenze zu Österreich durchlässiger machte, habe das eine Sogwirkung gehabt, sagt Dörr. "Innerhalb weniger Tage war hier alles mit Trabis übersät." Allein im August 1989 durchliefen 15 000 DDR-Bürger in der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Hessen das Aufnahmeverfahren, nach dem Mauerfall im November 22 500, bis zum Ende des Wendejahres 120 000 - von insgesamt 355 000 Übersiedlern.
Die Einrichtung, gleich hinter dem Gießener Bahnhof gelegen, platzte nach kurzer Zeit aus allen Nähten. Statt der vorgesehenen 500 tummelten sich dort im Schnitt 2300 Menschen. Die drangvolle Enge bedeutete für die Bewohner vor allem eins: Schlange stehen. Anstehen, um Anträge abzuholen, anstehen, um eine Mahlzeit zu bekommen. "Wir wussten, dass wir in Gießen kein Hilton erwarten konnten. Wir waren auf ein Chaos gefasst, aber so schlimm ist es nicht", sagte ein DDR-Flüchtling Ende August 1989.
Bis zu drei Tage blieben die Menschen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat im Aufnahmelager, bevor sie auf die Bundesländer verteilt wurden. Ohne ihre enorme Disziplin, meint Dörr, hätte es ein Tohuwabohu gegeben: "Mit Bundesrepublikanern hätte man das gar nicht machen können." Als Erfolgsfaktor sieht der 76-Jährige aber auch die Entscheidung, den DDR-Bürgern eine Broschüre mit detaillierten Anweisungen zu geben. "Sie wurden bei uns ans Händchen genommen, alles war geregelt." Monatelang hätten Mitarbeiter und freiwillige Helfer dafür rund um die Uhr gearbeitet.
Turnhallen als Notquartiere
Der Spalt im Eisernen Vorhang und seine Folgen rückte Gießen von August 1989 an in den Blickpunkt. Während Kasernen, Turnhallen und Pensionen in Mittelhessen zu Notquartieren umfunktioniert wurden, richtete der Bund zusätzliche Aufnahmestellen ein. Die Grenzöffnung jedoch, erinnert sich Dörr, lockte eine neue Klientel an: "Plötzlich kamen Abenteurer, so genannte Eheflüchtlinge und Männer, die sich vor Unterhaltszahlungen drücken wollten. Das führte zwangsläufig zu einem deutlichen Akzeptanzverlust der Übersiedler."
Von März 1990 an ebbte der Zustrom nach Gießen deutlich ab. Drei Monate vor der Wiedervereinigung im Oktober 1990 wurde das Aufnahmeverfahren abgeschafft. Ein Umzug von Dresden nach Frankfurt war nun genauso problemlos möglich wie ein Wechsel von Hamburg nach Frankfurt am Main. "Damit verlor das Lager seine zentrale bundesweite Aufgabe", sagt Dörr. Seit 1963 waren mehr als 800 000 Menschen mit Hilfe aus Gießen in den Westen übergesiedelt, wie das Regierungspräsidium in einem Rückblick schreibt.
"Wie minderjährige Kinder behandelt" Bis zu 1,5 Millionen DDR-Bürger hatten nach damaligen Angaben des Bundesnachrichtendienstes ihre Ausreise in den Westen beantragt. Besonders im Süden der DDR sei die Zahl der Ausreisewilligen groß gewesen. Der inzwischen gestorbene Schriftsteller Stefan Heym sagte damals: "Die Menschen in der DDR haben es satt, wie minderjährige Kinder behandelt zu werden." Die Zeit war nicht mehr zurückzudrehen. In den darauf folgenden Wochen und Monaten überschlug sich die Geschichte - angespornt auch von der Grenzöffnung bei Sopron.
Am 4. September 1989 versammelten sich die ersten couragierten Bürger öffentlich zu einer Montagsdemo in Leipzig. Von Woche zu Woche kamen mehr Menschen zu den friedlichen Demonstration, die mit dem Ruf "Wir sind das Volk" in die Geschichte eingingen. Hauptforderungen waren Reisefreiheit und die Auflösung des Stasi-Ministeriums. Am 11. September öffnete Ungarn ohne Absprache mit der DDR die Grenze nach Österreich für alle ausreisewilligen Flüchtlinge. Rund 30.000 Menschen verließen auf diesem Weg bis Ende September die DDR. Ende des Monats verkündete dann der damalige Bundesaußenminister Dietrich Genscher (FDP) in der überfüllten Botschaft in Prag vor jubelnden DDR-Flüchtlingen ihre Ausreise in die Bundesrepublik. "Sopron war der Vorraum zur Freiheit", hatte damals ein DDR-Flüchtling formuliert.
Auch wenn sich die DDR-Führung weiter unbeeindruckt zeigte und mit großem Pomp und einer Militärparade den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober feiern ließ, war gut einen Monat später nichts mehr übrig von der Arroganz der Macht. Das Volk hatte endgültig mit den Füßen abgestimmt. Aus dem Motto "Wir sind das Volk" wurde der Ruf "Wir sind ein Volk".
Der Osten als Sorgenkind
Doch auf die Euphorie, den Freudentaumel über die überwundene Teilung Deutschlands folgte bald Ernüchterung. Der Osten mit seiner hohen Arbeitslosigkeit und all ihren Folgen gilt vielen Politikern als Sorgenkind. Auch das Ringen um die innere Einheit dauert an. Ein Schlussstrich bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit könne noch längst nicht gezogen werden, sagt die frühere Bürgerrechtlerin Marianne Birthler. Mit der friedlichen Revolution vom Herbst 89 hätten viele Ostdeutsche Mut und Zivilcourage bewiesen, betont die heutige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Das dürfe nicht vergessen werden.