Jede Nation hat eine Geschichte, die am Besten mit einer anständigen Schlacht beginnt - möglichst mit einer gewonnenen - wenn nicht, wird sie im Gründungsmythos zu einer gewonnenen umgedichtet. Bei den Russen war das die berühmte Schlacht bei Kulikowo, als die Kosaken die Mongolen verscheuchten. Bei den Amerikanern war es der Unabhängigkeitskrieg gegen England, der mit der "Boston Tea Party" begann. Die Deutschen beginnen ihre Geschichte gerne mit der "Hermannschlacht" am Teutoburger Wald, die heute als "Varusschlacht" am Kalkrieser Berg bezeichnet wird. In drei Jahren jährt sich das Gemetzel zum 2000. Mal. Dann werden hier die patriotischen Herzen höher schlagen, Keulen und Bärenfell in Mode geraten. Voller Stolz auf ihre Vorfahren, die um 9 nach Christi Geburt drei römische Legionen komplett im germanischen Sumpf versenkten.
Eigentlich dumm gelaufen, die Schlacht am Teutoburger Wald. Hätten die Barbaren damals die Römer nicht verprügelt, wäre in Deutschland einiges anders gelaufen, und vor allem hätten wir hier eine viel feinere Küche: Risotto statt Klopse, guten Rotwein, optimistische Volksmusik, und alle Nachrichtensprecher wären Blondinen mit Locken und großem Busen! Aber sie mussten ja die Römer verjagen aus ihrem tollen Wald, was haben sie nun davon? Döner Kebap!
Familie als Mittel gegen Einsamkeit
Der damalige Sieg wurde in Krisenzeiten immer wieder aufgewärmt, um die Bevölkerung zur Fahne zu rufen - und in immer neue Kriege zu schicken. Sie endeten meist mit einer Niederlage, das aber der kriegerischen Stimmung keinen Abbruch tat. Ohne Keule kein Patriotismus! Außer beim Fußball, obwohl auch da nicht selten gekeult wird.
Die Geschichte der Deutschen
... beschreibt der stern in einer achtteiligen Serie. Im aktuellen Heft lesen Sie die erste Folge über die Germanen.
Wie kommt das? Weil die Menschen in guten wie in schlechten Zeiten einen Zusammenhalt, eine Gemeinde, ein Kollektiv brauchen, um sich nicht so schrecklich allein und verlassen zu fühlen? Das beste Mittel gegen die Einsamkeit ist die Familie, doch ein Familienleben ist anstrengend, es verlangt Kompromissbereitschaft, die Unterdrückung eigener Wünsche zugunsten anderer. Nur mit viel Geschick kann man die Familienangehörigen bei der Stange halten, ohne dass sie es merken. Außerdem darf man als Familienmensch nicht zu laut schnarchen, man darf nicht mit seinen Socken herumschmeißen, man darf nicht in der Nase bohren und muss ehrenamtlich noch als Vorbild für die Kinder fungieren.
Askese - Die Quelle aller Gelüste
Deswegen suchen viele einen Zusammenhalt jenseits der Familie und finden ihn zum Beispiel in einer Kirche. Die Religion kann auch Zusammenhalt bieten, die Aufnahme in eine Gemeinde von Gleichgesinnten, gemeinsames Singen und Pilgern inklusive. Doch eine Religion verlangt auch viel. Als Gläubiger wird einem quasi die Verantwortung für die ganze Welt übertragen. Jemand, der glaubt, die Antworten auf alle Sinnfragen parat zu haben, trägt diese Weisheit als ungeheure Last mit sich herum. Entweder muss er seinem Glauben ein Überdruckventil verschaffen und lospredigen, die Wahrheit unter die Leute bringen - bis alle sich von ihm abwenden, oder er muss sich gänzlich zurückziehen und seine Lebenszeit als Prüfung, als eine Art TÜV für das wahre Leben danach begreifen.
Wladimir Kaminer
... studierter Dramaturg, zog 1990 von Moskau nach Berlin. Der 39-Jährige wurde mit seinem Erzählband "Russendisko" berühmt, zuletzt veröffentlichte er "Küche totalitär. Das Kochbuch des Sozialismus." Kaminer kündigte jüngst an, im Jahr 2011 für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin kandidieren zu wollen.
Eine Religion ohne Askese ist kaum denkbar und Askese, das wusste Nietzsche bereits, ist die Quelle aller Gelüste. Es ist schwierig, in einer Religionsgemeinschaft gewissenhaft zu altern und die Reinheit seines Glaubens zu bewahren - irgendwann überkommen einem die Zweifel. Die preiswerteste Alternative für alle, die nach einem Zusammenhalt suchen, ist die Idee der Nation mit dem ihr eigenen Patriotismus. Sie bietet Schutz und Identifikation ("Wir haben die Hermannschlacht gewonnen!"), d.h. die Siege der Altvorderen werden als persönliche Siege wahrgenommen und die Niederlagen als "schwere Stunden für alle" am Liebsten ausgeblendet. Wenn man weder Job noch Familie noch Religionsgemeinschaft hat und auch sonst ein völliger Versager ist, kann man sich immer noch mit der Zugehörigkeit zu einer Nation patriotisch aufpumpen. Der Geburtsort wird dabei pathetisch zur Mutter Heimat, der eigene Nachname zum Lebensprogramm.
Der Tod als Prämie
Wir funktioniert eine Volksgemeinschaft? Wer darf an einem Volk teilnehmen? Eigentlich jeder Depp! Anders als in einer Familie oder Religionsgemeinschaft werden hierbei keine besondere Tugenden abverlangt, höchstens ein bisschen Sprachkenntnis und ein paar Geschichtsbrocken: "Wie hießen die beiden Raben von Odin?", "Wer verriet Siegfried?" oder "Und wer erfand den Mercedes?" Dazu kommt noch das notwendige Minimum an Folklore: Ein paar volkstümliche Lieder und Trinksprüche, vielleicht noch ein paar regionale Sittenkenntnisse. Jeder echte Patriot sollte nämlich wissen, dass man im Norden Bier und Schnaps zusammen runterkippt und im Süden hintereinander weg.
Auch das Brauchtum gehört dazu. Jedes Jahr ziehen paramilitärisch verkleidete Menschen mit Holzgewehren über die Dörfer. Oder sie sammeln angefrorenen Grünkohl und machen daraus ein gemeinschaftsstiftendes Gelage. Oder sie fahren mit geschmückten Wagen herum und werfen mit Bonbons. Manche jodeln auch, als hätten sie einen an der Waffel. Aber nicht doch - das sind die heimischen Bräuche, die aus einem Haufen Menschen erst ein Volk machen. Doch auch die Teilnahme an diesen volkstümlichen Späßen wird nicht wirklich verlangt.
Das Wichtigste für die Zugehörigkeit zu einer Nation ist die Tatsache, am gleichen Ort wie die anderen geboren worden zu sein. Die Nation funktioniert wie eine Lebensversicherung, mit dem Tod als Prämie - der Beitragssatz ist niedrig, doch wenn deine Heimat von einer anderen angegriffen wird oder eine fremde von deiner eigenen - in dem Fall muss man die Interessen der Heimat mit der Waffe in der Hand verteidigen, selbst dann, wenn diese Interessen sehr weit vom eigenem Geburtsort entfernt liegen und mit den eigenen Interessen nicht übereinstimmen.
Trickreiche Kleinherrscher und kritische Geister
Hunderte Millionen Menschen haben für diese Art Zusammenhalt mit ihrem Leben bezahlt und viele von ihnen starben im guten Gewissen, ihr Leben teuer und richtig verkauft zu haben. Die Geschichte aller Nationalstaaten fängt immer und überall mit der Notwendigkeit an, Krieg zu führen. Ein alter Trick aller Kleinherrscher und Generäle, der es ihnen erlaubt, in kürzester Zeit möglichst viele unterschiedliche Menschen in Reih und Glied aufzustellen und in den Tod zu schicken. Sterben für die Heimat und die Nation war und ist eine Selbstverständlichkeit der einfachen Leute. Die Herrschenden wechselten dagegen ihre Heimat und Nation ohne Gewissensbisse. Und die Künstler haben für die einen wie für die anderen Rechtfertigungen geschaffen.
Es gab natürlich auch andere, kritische Geister, die sich gegen die Idee der Nation zur Wehr setzten. Sie schrieben darüber, dass die Einsamkeit eines Menschen durch keinen Zusammenhalt zu brechen ist. Diese Denker wurden oft als Verräter oder Nestbeschmutzer bezeichnet und von der Öffentlichkeit pulverisiert. Sie wurden von der Mehrheit verachtet und gehasst. In Russland war das beste Beispiel dafür der Schriftsteller Leo Tolstoi, der 1906 in einer Zeitung schrieb, ihm sei es egal, ob Russland über Japan siege oder umgekehrt. Damals standen Russland und Japan auf Kriegsfuß. Das ganze Land wurde mit Plakaten zugeklebt, auf denen große slawische Recken fiese kleine Asiaten gleich im Dutzend mit ihren Bajonetten aufspießten. Das war der Beginn einer der vielen sinnlosen Schlachten des vorigen Jahrhunderts, bei denen ein ausufernder Patriotismus zur Mobilisierung eingesetzt wurde. Einer von diesen Kriegen, die am Ende nur Berge von Leichen hinterließen, statt Gewinner und Verlierer.
Aber vorher stand das ganze Land wie ein Mann auf, um Leo Tolstoi in die Schranken zu weisen. Linke und Rechte, die Kirche und die Intelligenzija unterstellten dem Schriftsteller Russlandfeindlichkeit und mangelnden Patriotismus. Es gab Überlegungen, ihn nach Amerika abzuschieben, sogar nach Japan. Zwei Jahre später war der Krieg endlich verloren - spätestens da wusste jeder - die ganze Schlacht war umsonst gewesen. Die russische Niederlage damals war zu unbedeutend, um den kriegerischen Geist des Patriotismus auszutreiben.
Die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg bewirkte hingegen auf lange Zeit eine Lähmung dieser Regung. Die "Mauer" drückte sie nieder, doch kaum war sie weg, kam "Die Stunde des Patrioten" wieder. In der ehemaligen DDR scheinen die Nationalisten an Boden zu gewinnen. Im Westen werden daneben die "Alten Werte" wieder hervorgekramt. Von deutscher Leitkultur ist die Rede, die andere Kulturen bestenfalls toleriert oder tolerieren soll ohne ihr Dominanzempfinden auch nur für Sekunden in Frage zu stellen. Die Angehörigen fremder Kulturen, die eingebürgert werden wollen, sollen in Zukunft spezielle Tests bestehen, in einer Art Quiz Show "Wer wird Deutscher" teilnehmen, nur ohne Publikums-Joker, ohne einen "zwei durch zwei" Joker, und ohne der Möglichkeit sich im Fall der Fälle bei einer fachkundigen Person seines Vertrauens telefonisch beraten zu lassen. Wer durchfällt hat Pech gehabt.