Teil 1: Untergang und Befreiung Das schwierige Erbe des "Tausendjährigen Reiches"

Der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg traumatisierte die Überlebenden, er prägt die Welt bis heute. 60 Jahre nach seinem Ende suchen die Nachgeborenen einen neuen Blick auf die Geschichte.

Vorbei! Geschafft! Erledigt!", jubelt Klaus Mann am 8. Mai 1945 in einem Brief an seinen berühmten Vater Thomas. "Man denkt nicht an das Kommende, nicht heute! Heute denkt und fühlt man nur: Uff…" Was für eine Last muss von ihm, einem deutschen Emigranten in US-Diensten, welche Last muss von der Welt an diesem Tag abgefallen sein?

Fast sechs Jahre hat der Kampf gedauert. Nun weht auf dem Reichstag in Berlin die Fahne der siegreichen Sowjetarmee, und die Amerikaner stehen bei Leipzig.

Deutschland und die Deutschen sind im Mai 1945 am Ende - militärisch, politisch, moralisch. Die einst gefürchtete Wehrmacht versucht zuletzt, mit Alten, Fußlahmen und verängstigten Kindern den stets beschworenen "Endsieg" zu erringen. Hitler, der lange umjubelte "Führer", dirigiert in seinem Bunker unter der Neuen Reichskanzlei Geisterarmeen, um am Ende seinem Volk das Lebensrecht abzusprechen und sich mit Gift umzubringen.

Im Januar haben sowjetische Soldaten Auschwitz befreit, Bilder aus Bergen-Belsen führen jedem vor Augen, welch unglaubliche Schuld die Deutschen auf sich geladen haben. Fotos aus den Lagern entlarven die Täter und zwingen Millionen von Menschen, die an Hitler geglaubt haben, nach der eigenen Verstrickung zu fragen.

Alfred Döblin, dessen wichtigster Roman um den Berliner Alexanderplatz - nun ebenfalls ein Trümmerfeld - kreist, notiert nach dem 8. Mai: "Mein persönlicher Bedarf an historischen Ereignissen ist nun völlig gedeckt."

Das größte Gemetzel der Geschichte wird die Deutschen nicht mehr loslassen. Auch jetzt nicht, nach 60 Jahren, da die Städte längst wiederaufgebaut sind, der Wohlstand weit größer ist als je vor dem Krieg; da in Deutschland zwei Generationen leben, die keine persönliche Schuld treffen kann, weil sie damals noch nicht geboren waren.

Wir alle sind Erben dieser Menschheitskatastrophe, an deren Ende Deutschland sich mit 51 Staaten im Krieg befand: Seine Ergebnisse haben die Ordnung der Welt über Jahrzehnte geprägt; als Reaktion auf ihn entstanden die Vereinten Nationen, wurde Europa so gründlich geteilt, dass die Narben auch 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums noch schmerzen. Wir leben in einer "Nach-Nachkriegszeit", sagt der britische Hitler-Biograf Ian Kershaw im stern-Interview.

So nüchtern und unsentimental wie kein deutscher Historiker seines Ranges rechnet Kershaw mit den Mythen des Krieges ab. Der 20. Juli 1944? Nur weil das Attentat auf Hitler gescheitert und der NS-Staat militärisch geschlagen worden sei, habe die Bonner Republik überhaupt eine Chance gehabt. Die Vertreibung von Millionen Deutschen aus dem Osten? Humanitär ein Desaster - politisch ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Befriedung des alten Kontinents. Der Bombenkrieg? Militärisch falsch, aber verständlich. Hätte Kershaw im Kommandostab der alliierten Bomberflotte gesessen, hätte er die Angriffe wahrscheinlich gutgeheißen.

60 Jahre nach Kriegsende sind die Zeitzeugen Greise, und viele, die lange geschwiegen haben, wollen ihre Geschichten erzählen. Gerade die Geschichten, in denen ganz normale Deutsche auch Opfer des Krieges und der Gewalt wurden, die ihr "Führer" entfacht hat.

An keinem Jahrestag zuvor

waren der Krieg und sein Ende so präsent wie an diesem. "So viel Hitler war nie", schreibt der Bochumer Historiker Norbert Frei - und sagt einen Gezeitenwechsel im Umgang mit der Vergangenheit voraus. Nach dem Krieg wurde viel geschwiegen, verdrängt und ein wenig gejammert. Später klagten die Söhne ihre Väter an - und wer links oder liberal war, wer die Chance der Demokratie nutzen wollte, der spürte, dass eine "gewisse Selbstimmunisierung" (Frei) gegen das Leid, das Deutsche traf, unerlässlich war. Man durfte es einfach nicht an sich heranlassen.

Vertreibung, Bombenkrieg, das Elend vieler Wehrmachtssoldaten - all diese Aspekte wurden erst in den vergangenen Jahren zu Themen, die man diskutieren konnte, ohne sich allzu schnell dem Generalverdacht auszusetzen, die Verbrechen Nazi-Deutschlands zu relativieren.

Es bleibt eine schwierige Debatte. Jörg Friedrich hat in seinem Bestseller "Der Brand" das Leid in den Bombennächten vergegenwärtigt wie kein anderer. Aber er verliert sich in einer Sprache, die im besten Falle gedankenlos, wahrscheinlich aber kühl kalkuliert ist: Da werden Luftschutzkeller zu Krematorien, wird zumindest semantisch der Tod im Bunker in Verbindung gebracht mit dem im Konzentrationslager. Das monströse Jahrhundertverbrechen des Holocaust wird zur Provokation genutzt.

Anderswo weichen die alten Reflexe. Wenn Deutsche im Ausland unterwegs sind, denkt von Wladiwostok bis Vancouver noch immer jeder auch an Nazis. An schneidig geschnarrte Befehle und lange Uniformmäntel - nur das Grauen hinter den Verbrechen der NS-Zeit verblasst angesichts von Unwissenheit und Ignoranz. In London etwa findet es Prinz Harry lustig, sich als Nazi zu verkleiden. Ein dummer Junge. Aber die Dummheit speist sich aus einer gefährlichen Quelle. Hitler wird zur Unterhaltungsware, zu einer Art Popstar des Bösen.

Gegen Geschichtsvergessenheit und Gedankenlosigkeit hilft vor allem eines: Wissen um das Vergangene; dazu trägt die subjektive Erinnerung der Alten bei, aber ebenso nötig ist die Vermittlung der Fakten. In einer sechsteiligen Serie beschreibt der stern Kriegsende und Nachkriegszeit. Dazu gehören Analysen, Karten, Originaldokumente und Fotografien. Daneben stehen bewegende Reportagen. Etwa über die Bauern in einem kleinen Dorf im Oderbruch, das Anfang 1945 völlig zerstört wird. Oder über den Rotarmisten Wladimir Gelfand, der im April 1945 als Sieger nach Berlin kommt. Oder über eine junge Frau aus Pommern, die nach Mecklenburg flieht und bald darauf von den Kommunisten schikaniert wird.

Am Ende der Serie steht die Frage, wie wir künftig mit der Geschichte umgehen sollen. Was bleibt, wenn die Zeitzeugen nicht mehr leben? Was bedeuten Vernichtungskrieg und Holocaust, wenn an die Stelle der Erinnerung endgültig die Geschichtsschreibung tritt?

Jahrzehnte hat es gedauert, bis sich im Westen Deutschlands die Erkenntnis durchsetzen konnte, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Noch länger brauchten die Deutschen, um sich darauf zu verständigen, dass der Krieg im Osten verbrecherisch geführt wurde und die Wehrmacht keineswegs "sauber" war - eine Legende, an der vom Beginn der Nachkriegszeit an gestrickt wurde.

Am 9. Mai 1945,

nach der Kapitulation, sendet der "Reichssender Flensburg" Auszüge aus dem letzten Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht: "Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen", heißt es darin. "Der deutsche Soldat hat, getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk, für immer Unvergessliches geleistet."

Begonnen hat das "für immer Unvergessliche" fast sechs Jahre zuvor. Eine Hand voll SS-Männer, als Polen getarnt, überfällt den schlesischen "Reichssender Gleiwitz" und liefert damit Hitler den Vorwand für seinen Angriff auf das Nachbarland: "Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen", verkündet der "Führer" des nationalsozialistischen Deutschlands am 1. September 1939. "Von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten."

Hitler weiß, dass der Überfall auf Polen von Frankreich und Großbritannien nicht hingenommen werden wird - anders als zuvor die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands, der "Anschluss" Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Die Posse von Gleiwitz ist der Auftakt zum großen Krieg. Und der beginnt für Hitler mit spektakulären Erfolgen. Polen hat der in nur wenigen Jahren aufgerüsteten Wehrmacht nichts entgegenzusetzen. Frankreich wird in sechs Wochen besiegt. Die britische Streitmacht bei Dünkirchen gedemütigt und zurück über den Kanal gezwungen.

Im Juni 1940, nach dem Einmarsch in Paris, scheint Hitler ganz oben zu sein. Die Deutschen jubeln ihm zu. Sein ihm hundetreu ergebener General Wilhelm Keitel erkennt in dem einstigen Gefreiten den "größten Feldherrn aller Zeiten".

Gleich nach dem Erfolg im Westen wendet sich Hitler seinem nächsten, dem eigentlichen Angriffsziel zu: Stalins Sowjetunion, mit der Deutschland 1939 einen trügerischen Nichtangriffspakt geschlossen hatte. Hitler rechnet vor dem Überfall im Juni 1941 damit, dass der Kampf vier Monate dauern würde. Sein Propagandaminister Joseph Goebbels tönt gar: "Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen."

Es wird ein barbarischer Vernichtungskrieg.

Millionen sowjetische Soldaten, in großen Kesselschlachten gefangen genommen, lässt die Wehrmacht einfach verrecken. Der massenhafte Tod von Zivilisten, denen die Vorräte geraubt und die Häuser niedergebrannt werden, ist Teil der Strategie. Hinter den Fronten wütet die Nazi-Mordmaschine, die Millionen Juden vernichtet. Bis kurz vor Moskau dringen Hitlers Truppen im Dezember 1941 vor. Dann wendet sich das Blatt. Die Vereinigten Staaten treten nach dem Angriff von Deutschlands Verbündetem Japan auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor in den Krieg ein.

Unter unvorstellbaren Opfern verteidigt sich die Rote Armee - um nach jahrelangem Leiden und Sterben von Millionen Menschen im Mai 1945 schließlich als Sieger, und oft auch als Rächer, in Berlin einzuziehen. Da rücken von Westen bereits die Truppen der USA und Großbritanniens immer schneller auf deutschem Territorium vor. Im Juni 1944 hatten sie mit der Invasion in der Normandie begonnen; im Oktober desselben Jahres Aachen eingenommen. Im April schließlich an der Elbe die sowjetischen Verbündeten getroffen.

Als der verlustreichste aller Kriege endlich vorbei ist, liegt der halbe Kontinent in Trümmern. Die Zahl der Toten wird sich nie genau bestimmen lassen. Es waren mit Sicherheit weit mehr als 50 Millionen. Zu den Opfern zählen: Über 20 Millionen, vielleicht viel mehr, Bürger der Sowjetunion; mindestens sechs Millionen Polen. In den Konzentrationslagern beging Deutschland mit der Vernichtung der europäischen Juden - sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder - einen Zivilisationsbruch ohne Beispiel.

Aber auch im Land des Aggressors sind die Verluste gewaltig - mindestens fünf Millionen Menschen, fast jeder 14., kamen ums Leben. Selbst als der Krieg längst verloren ist, funktioniert der Mord- und Gewaltapparat der Nazis weiter. In der Debatte um deutsche Opfer hat der Hamburger Schriftsteller Ralph Giordano daran erinnert, dass noch zur Zeit der Zerstörung Dresdens durch alliierte Bomber im Februar 1945 der letzte Transport von Juden aus Hamburg nach Theresienstadt abfuhr.

Die Ruinen sind verschwunden,

die Erinnerung an die Toten verblasst, die letzten überlebenden Täter sterben, die letzten Opfer - damals Kinder - sind nun selbst alt. Der 60. Jahrestag markiert eine Zäsur in der Auseinandersetzung mit Krieg und Nationalsozialismus. Ihr Ende ist es nicht. Die 1968 geborene Schriftstellerin Tanja Dückers ist sich sicher: "Meine Generation ist die erste, die einen nüchternen Blick auf dieses Thema wagen kann."

Arne Daniels und Stefan Schmitz
Mitarbeit: Claas Pieper und Klaudia Thal

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