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Widerstand Der tollkühne Überfall auf einen Todeszug

Als am 19. April 1943 ein Deportationszug vom belgischen Mechelen nach Auschwitz fährt, sind 1631 Juden auf dem Weg in den sicheren Tod. Plötzlich stoppt der Zug - und ein einzigartiger Akt der Rebellion beginnt.

Eine Sekunde lang durchzuckte Robert Maistriau die Angst. Angst vor der eigenen Courage. Doch dann richtete er sich auf, kniff mit der Zange den Draht zur Tür des Güterwaggons auf. "Fliehen Sie! Fliehen Sie!", rief der 22-Jährige den Insassen auf Deutsch zu. Dann peitschten Schüsse durch die Nacht.

Der Zug, den Robert Maistriau mit zwei Kameraden des belgischen Widerstandes auf offener Strecke bei Brüssel stoppte, war mit mehr als 1630 Juden an Bord nach Auschwitz unterwegs. Die Soldaten im ersten und letzten Waggon waren von der waghalsigen Befreiungsaktion völlig überrascht. "Wir hatten ein irres Glück", erinnert sich Maistriau, einziges noch lebendes Mitglied des kleinen Kommandos vom 19. April 1943.

"Heldentat wider alle Vernunft"

An den Jahrestag dieser einzigartigen Aktion, der auch den Beginn des Aufstandes im Warschauer Getto markiert, wird jedes Jahr in dem kleinen Ort Boortmeerbeek bei Brüssel in der Woche nach Ostern erinnert. Gedacht wird einer "Heldentat wider alle Vernunft", wie die Autorin Marion Schreiber "dieses lebensgefährliche Abenteuer" der drei jungen Männer in ihrem Buch "Stille Rebellen" einordnet.

Die Motivation der drei Helden war simpler. "Ich habe das mehr aus dem Wunsch heraus getan, etwas gegen die Besatzer zu machen, als etwas Besonderes zu leisten", sagt Mastriau 58 Jahre danach. "Mir war das Risiko, das wir eingingen, wohl bewusst." Seiner Mutter und seinem Bruder habe er erst nach dem Krieg von der Judenbefreiung erzählt. Maistriaus Mitarbeit in der Résistance ließ die Familie nichts Gutes ahnen: "Meine Mutter hatte Angst um mich."

Dennoch sagte der heute 84-Jährige spontan zu, als sein Freund Youra Livchitz nach Helfern für den Überfall auf den Auschwitz-Zug suchte. "Wir kannten den Namen Auschwitz, aber wir wussten nicht, wo das war", erinnert sich Maistriau. Auch was die deportierten Juden dort genau erwartete, ahnte der junge Mann nur: "Livchitz sagte, dass es sicher nicht gut enden würden für diese Leute."

Belgiens kommunistische Résistance hatte bereits erwogen, einen Deportationszug der Nazis zu stoppen und die Insassen zu befreien, wie Maistriau später erfuhr. Doch dann habe die Gruppe diesen Plan als zu gefährlich fallen lassen. Youra Livchitz, Robert Mastriau und Jean Franklemon jedoch radelten am Abend des 19. April 1943 vor die Tore Brüssels, stellten eine rote Laterne auf die Gleise und lauerten auf den Transport aus dem belgischen Konzentrationslager Breendonk.

Der Zug kam. Er hielt. Und Maistriau öffnet den Waggon, der vor ihm zum Stehen gekommen war. Fast 60 Menschen waren in den Güterwagen gepfercht. Zwei Frauen sprangen als erste heraus, eine Handvoll Männer folgte. "Aber ein Mann wollte die Leute davon abhalten herauszuspringen", erzählt der Befreier. 17 Menschen verließen den Waggon schließlich und brachten sich im nahen Wald in Sicherheit. Aus dem Waggon nebenan hörte Maistriau Stimmen: "Öffen Sie! Öffnen Sie!" Doch da rollte der Zug schon wieder an.

"Insgesamt flüchteten 231 Deportierte an diesem 19. April 1943 vor der deutschen Grenze aus dem Konvoi", recherchierte Schreiber. "23 Juden starben bei dem Fluchtversuch unter dem Kugelhagel des Begleitschutzes oder durch einen unglücklichen Sturz." Doch alle Entkommenen hätten auf die Hilfe der belgischen Bevölkerung rechnen können - so wie Paul Spiegel, heute Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland.

"Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk"

Als Zweijähriger war Spiegel mit seinen Eltern auf der Flucht vor den Nazis nach Belgien gekommen. Seine Schwester Rosa wurde zusammen mit 130 anderen Kindern im 14. Deportationszug aus Belgien nach Auschwitz gebracht, Paul überlebte bei freundlichen Bauern in Chapelle-lez-Herlaimont. Die Bedeutung des Überfalls auf den 20. Deportationszug unterstreicht Spiegel mit einem Spruch aus dem Talmud: "Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk."

Roland Siegloff/DPA DPA

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