Es ist Anfang Oktober: In Duisburg und Erfurt zünden Unbekannte in Folge der Christopher-Street-Days Regenbogenfahnen an. In Bad Waldsee in Baden-Württemberg wird eine regenbogenfarbene Sitzbank zerstört und in Hamburg werden vier Männer von Unbekannten erst schwulenfeindlich beleidigt und dann geschlagen. Nur wenige Tage später wird ein 40-Jähriger in Berlin nach einem homosexuellen Kuss mit einer Schusswaffe bedroht.
Diese queerfeindlichen Zwischenfälle sind keine Seltenheit. Auch im 21. Jahrhundert sind queere Menschen in ihrer persönlichen Freiheit erheblich eingeschränkt. Vor jeder Umarmung oder einem Kuss – sogar vorm Händchen halten – in der Öffentlichkeit müssen Mitglieder:innen der LGBTQ-Community die Umgebung prüfen. Bestimmte Orte müssen sie ganz meiden. Die Angst aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität körperlich oder verbal diskriminiert oder angegriffen zu werden ist allgegenwärtig.
80 bis 90 Prozent der Straftaten landen nicht bei der Polizei
578 Fälle von Hasskriminalität gegen die sexuelle Orientierung und 204 Fälle gegen Geschlecht und sexuelle Identität haben die Behörden im Jahr 2020 registriert. Insgesamt wurden demnach 782 Straftaten von Hasskriminalität gegenüber Mitglieder:innen der LGBTQ-Community erfasst. Das ist ein Anstieg von 36% gegenüber 2019.
Nicht nur, dass jede Straftat gegenüber unseren Mitmenschen eine zu viel ist: Die Dunkelziffer – also die Vorfälle, die nicht bei der Polizei gemeldet werden – liegt noch viel höher: Sebastian Stipp, eine von zwei Ansprechpersonen für queere Menschen bei der Berliner Polizei, schätzt sie auf 80-90 Prozent.
,,Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten“, sagte Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. Ein Zitat, das deutlich macht, wie wichtig die Strafverfolgung von verbalen oder körperlichen Zwischenfällen ist. Der erste Schritt dazu: Betroffene müssen die Zwischenfälle der Polizei melden. Doch hier beginnt meist schon das Problem.
Angst und Schock
In einer 2020 veröffentlichten Umfrage der EU-Grundrechteagentur – an der sich auch mehr als 16.000 queere Menschen aus Deutschland beteiligt haben – gingen lediglich 13 Prozent der Befragten nach einem Zwischenfall zur Polizei. 23 Prozent haben in den letzten fünf Jahren nach einer Gewalttat eine Anzeige vermieden aus Angst vor einer homo- oder transphoben Reaktion der Polizei.
Die Gründe sind von Person zu Person unterschiedlich und reichen von Angst, Schock, Scham bis dahin, dass einige Personen, die queerfeindlich beleidigt oder angegriffen wurden, selbst noch nicht ihr Coming-out hatten. Auch Misstrauen und Vorbehalte gegenüber der Polizei sind keine Seltenheit. Viele ältere Mitglieder:innen der Community kennen die Polizei noch als Teil der staatlichen Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland.
Auf die Frage, warum sie nach einem Angriff nicht zur Polizei gegangen waren, antworteten rund 40 Prozent der Befragten, dass sie nicht denken, dass das was bringen würde. Weitere Motive waren zum Beispiel, dass der Vorfall den Betroffenen nicht schlimm genug schien.
So kann es nicht weiter gehen!
Die Lage in Deutschland muss sich dringend ändern. Es kann nicht sein, dass Menschen im 21. Jahrhundert in Deutschland immer noch Angst haben müssen, ihre Liebe in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das sind massive Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Eine Freiheit, die fest in unserem Grundgesetz verankert steht.
Wer Opfer von verbalen oder körperlichen queerfeindlichen Angriffen wird, muss meiner Meinung nach in der Lage sein, sich vertraulich an die Polizei zu wenden. Nur so kann den Betroffenen geholfen werden. Dafür muss das Vertrauen von queeren Menschen in die Polizei wieder hergestellt werden. Positive Erfahrungen sind hierbei die Kernelemente. Es braucht Ansprechpartner:innen bei der Polizei und eine Verbesserung der Datenerfassung, die den Ansprüchen der Übergriffe gerecht wird.
Um die Datenerfassung von Hasskriminalität gegenüber Mitglieder:innen der LGBTQ-Community zu verbessern, wird ein Bund-Länder-Programm für homo- und transphobe Gewalt inklusive umfassender Präventionsmaßnahmen benötigt. Denn die Polizei ist Sache der Bundesländer.
Anliegen an die Innenministerkonferenz
Seit 1954 gibt es die Innenministerkonferenz als ständige Einrichtung, um die länderübergreifende Zusammenarbeit auf politischer Ebene zu verankern. Noch nie wurde sich in den letzten 67 Jahren auf der Konferenz mit der Sicherheit und Freiheit von queeren Menschen in Deutschland befasst. Es liegt an ihnen und dem Arbeitskreis 2 die spezifisch gegen Mitglieder:innen der LGBTQ-Community gerichtete Hasskriminalität zum Thema zu machen. Die nächste Innenministerkonferenz findet vom 1. bis 3. Dezember 2021 statt.
Schon im vergangenen Jahr machte der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) auf die Sachlage aufmerksam und forderte die Politik zum Handeln auf. Auch in diesem Jahr werden Stimmen laut: Aktuell machen sich mehr als 46.000 Menschen im Rahmen einer Petition für die LGBTQ-Sicherheit stark. Darunter auch prominente Stimmen, wie Jochen Schropp, Hape Kerkeling und Jendrik Sigwart. Die Petition fordert eine einheitliche Datenlage über Hasskriminalität gegen LGBTQ, eine gemeinsame Strategie der Innenministerkonferenz gegen LGBTQ-feindliche Gewalt und die Bildung einer unabhängigen Expert:innenkommission.
Hier geht es zur Petition.
Quellen: Campact / LSVD / innenministerkonferenz.de