Frau Professor Frevert, am 23. Mai feiert das Grundgesetz Geburtstag. Welche Gefühle ruft das bei Ihnen hervor?
Das Grundgesetz ist fünf Jahre älter als ich. Wir bekamen es in der Schule in die Hand gedrückt. Die Ausgabe habe ich heute noch. Damals fand ich das unwichtig. Heute empfinde ich Freude, dass diese Verfassung mit ihren Grundrechten Bestand hatte und an einigen Stellen sogar verbessert wurde. Stolz ist für meine Generation in Verbindung mit nationalen Symbolen ein schwieriger Begriff. Aber für das Grundgesetz empfinde ich sogar Stolz.
Dabei ist es formal nur ein trockener, juristischer Text.
Es mag nicht so literarisch sein wie die französische Verfassung von 1830. Dem Schriftsteller Stendhal wurde nachgesagt, er lese sie jeden Morgen, um sich ihren Stil für seine Romane anzueignen. Aber das Grundgesetz ist schon ein knackiger Text. Er atmet die Zeit, in der er entstanden ist, aber er weist auch in die Zukunft.
Sie sind viel im Ausland unterwegs, auch in weniger demokratischen Staaten. Streift Sie da gelegentlich der Gedanke, wie gut Sie es haben, zum Beispiel mit der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre?
Ich bin dankbar, dass ich mit diesem Grundgesetz leben darf. Aber ehrlich gesagt, mich beeindruckt in anderen Staaten, zum Beispiel in den USA, eher deren Fähigkeit, ihre historischen Errungenschaften mit Begeisterung zu feiern. Das würde ich mir bei uns auch wünschen.