75 Jahre Grundgesetz Bundestagsvize Göring-Eckardt: "Im Osten ist nicht jeder beknackt oder Neonazi"

Katrin Göring-Eckardt leitet als Bundestagsvizepräsidentin eine Sitzung des Parlaments.
Katrin Göring-Eckardt leitet als Bundestagsvizepräsidentin eine Sitzung des Parlaments.
© Bernd Elmenthaler / AP
Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt kritisiert, dass beim anstehenden Grundgesetz-Jubiläum Ostdeutschland "nur ein Anhängsel" sei. Damit setze sich die Demütigung der Menschen in den sogenannten neuen Ländern fort.  

Frau Göring-Eckardt, Sie wurden kürzlich erneut auf einer Wahlveranstaltung in Ostdeutschland bedrängt, diesmal in Brandenburg. Wie geht es Ihnen damit?
Ich hatte Sorge um die Leute, die dort leben und die Veranstaltung organisiert und besucht hatten. Protest ist legitim, Bedrohung und Einschüchterung nicht. Es kann nicht sein, dass Demokratie-Veranstaltungen zum Risiko werden: Für Organisatoren, Besucher oder Teilnehmende. Über Demokratie zu reden, muss überall möglich sein. Da braucht es auch ein stärkeres Bewusstsein der Sicherheitsbehörden. Demonstrations- und Meinungsfreiheit sind zu schützen, das gilt allerdings auch für die ordnungsgemäße Durchführung politischer Veranstaltungen und den Schutz von politisch Engagierten.

Über den Osten wird oft nur wegen solcher Proteste geredet – oder weil bei den sogenannten Ost-Wahlen AfD-Siege dräuen. Nervt Sie dieser Zusammenhang?
Ja, es nervt. Anfang des Jahres gab es die Blockade von Robert Habeck in Schlüttsiel in Schleswig-Holstein, später wurde der Politische Aschermittwoch in Biberach in Baden-Württemberg durch Protestierende verhindert. Am Wochenende gab es an vielen Orten in Deutschland, in West wie Ost, Angriffe auf Leute, die Wahlplakate kleben. Egal, wo so etwas passiert, das kann unser Rechtsstaat nicht hinnehmen. Und zu den Ost-Wahlen: Es geht schon beim Begriff los. Niemand würde von West-Wahlen reden, nur weil gleichzeitig in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz über die Landtage abgestimmt wird. Und zwar, weil es sehr unterschiedliche Länder sind.

So wie Sachsen, Thüringen oder Brandenburg.
Genau. Aber in der Wahrnehmung des Westens und der Hauptstadtblase sind das eben drei Ost-Länder. Ostdeutschland wird in dieser Erzählung zum homogenen Gebiet. Aber das Gegenteil ist richtig. Es handelt sich um drei unterschiedlich gewachsene und unterschiedlich regierte Länder. Also: Im September werden die Landtage von Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. So viel Zeit sollte sein.

Immerhin haben diese drei Länder 40 Jahre DDR und fast 35 Jahre Transformation gemeinsam – und eine überdurchschnittlich starke AfD. Besorgt Sie das nicht?
Doch, es besorgt mich sogar sehr. Dennoch ist die AfD kein Alleinstellungsmerkmal des Ostens. In Hessen kam sie zuletzt bei der Landtagswahl auf 18,4 Prozent – und damit lag sie fünf Prozentpunkte unter ihrem letzten Thüringer Wahlergebnis. In jedem Fall ist es viel zu viel. Aber, dass ich mich, weil ich aus Thüringen stamme, ständig für die hohen Werte der AfD rechtfertigen muss, das nervt. Es ist wirklich ermüdend, immer wieder zu erklären zu müssen, dass im Osten nicht jeder beknackt oder Neonazi ist.

Sie relativieren. Ist die AfD im Osten im Durchschnitt nicht doppelt so stark wie im Westen?
Es liegt mir absolut fern, das kleinzureden. Doch selbst wenn sich zurzeit leider bis zu einem Drittel der Menschen vorstellen kann, AfD zu wählen: Das heißt doch im Umkehrschluss, dass sich das zwei Drittel nicht vorstellen können. Und diese zwei Drittel tun sehr oft mehr für die Demokratie als viele Westdeutsche.

Wie meinen Sie das?
In Thüringen oder Sachsen kostet es viel mehr Kraft und oft auch Mut, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren. Wer in München oder Hamburg auf die Straße geht, hat es dabei deutlich einfacher als jemand, der in Saalfeld oder Gotha für unsere Demokratie demonstriert. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Respekt und Augenhöhe

Sie sagten, nicht alle in Ostdeutschland seien beknackt oder Neonazis: Muss dieser Befund nicht auch für AfD-Wähler gelten?
Wir sollten differenzieren. Studien belegen, dass ein großer Teil der AfD-Wähler diese Partei genau deshalb wählt, weil sie extrem, xenophob oder autoritär ist. Aber es gibt eben auch die Wählerinnen und Wähler, die nicht aus Überzeugung, sondern eher aus Überdruss und Ärger heraus der AfD gerade anhängen. 

Wie lässt sich das verändern?
Mit Respekt und Augenhöhe. Und damit komme ich auf die gemeinsame Ost-Erfahrung der Transformationszeit: von den Massenentlassungen über den Elitenaustausch bis hin zu der Tatsache, dass Vermögen, Einkommen und Erbe extrem ungleich verteilt sind. Die Antwort auf die Frage, wem heute ostdeutsche Unternehmen, Grundstücke, Mietshäuser, aber auch die Felder der Bauern gehören, lautet oft: irgendwelchen Großinvestoren oder Westdeutschen. 

Das aber lässt sich kaum reparieren.
Ja, und daran ändern übrigens auch milliardenschwere Ansiedlungen von Tesla oder Intel wenig. Aber es wäre mal ein Anfang, wenn darüber nicht nur im ostdeutschen Selbstgespräch, sondern auch auf Bundesebene ernsthaft geredet würde. Das gilt auch für die Frage von Repräsentanz. 1990 übernahmen westdeutsche Eliten zentrale Stellen in der Verwaltung der neu gebildeten Bundesländer. In vielen Bereichen war dieser Elitentransfer von West nach Ost auch unvermeidlich: Welche Ostdeutschen hätten ein Oberlandesgericht, eine Landesbank oder ein Landeskriminalamt nach bundesrepublikanischen Regeln führen können? Doch fast 35 Jahre später sind Ostdeutsche in Leitungsfunktionen immer noch unterrepräsentiert. All diese Ungleichheiten machen etwas mit den Menschen. Sie strengen sich an, aber sie kommen nicht wirklich damit voran. Daraus entsteht das Gefühl von Zweitklassigkeit – das die AfD systematisch bedient.

Und eben auf dem Weg ist, die dominante politische Kraft zu werden.
Ich negiere das nicht. Ich werbe nur für ein komplettes Bild und für ein Gespür für die Brüche, die den Ostdeutschen zugemutet wurden. Und ich werbe dafür, ihren immensen Beitrag zur gemeinsamen bundesdeutschen Geschichte zu würdigen.

Wie zum Beispiel? 
Zum Beispiel, in dem nicht einfach in diesem Mai 75 Jahre Grundgesetz als Jubiläum der alten Bundesrepublik gefeiert wird – und Ostdeutschland nur ein Anhängsel ist. Dabei war die friedliche Revolution von 1989, die 1990 zum Beitritt der ostdeutschen Länder führte, die Vollendung des Willens der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Erst seit der Wiedervereinigung gilt die Verfassung für alle Deutschen. Doch das wird leider von den Jubiläumsplanungen kaum abgebildet. Stattdessen feiert sich die alte Bundesrepublik selbst – und der Beitrag der Ostdeutschen spielt jedenfalls bisher nahezu keine Rolle.

Übertreiben Sie da nicht?
Ich möchte als Beleg den Mann zitieren, der für die BRD die Einheit verhandelte. Das hier hat Wolfgang Schäuble hat in seinen Memoiren zur damals abgesagten Debatte über eine gemeinsame Verfassung geschrieben: "Die Menschen in der DDR wollten in ein Land mit der Ordnung des Grundgesetzes. Und die Westdeutschen verspürten ohnehin keinen Wunsch nach Veränderung." Die Wiedervereinigung wurde zum Beitritt, nicht weniger – aber eben auch nicht mehr. Und genau in diesem Sinn wird jetzt gefeiert. Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Punkt. Und, ach ja, zwischendurch sind noch die ostdeutschen Länder seinem Wirkungsbereich beigetreten. 

Wie hätten Sie denn gerne gefeiert?
Ich habe für ein Doppeljubiläum geworben, und zwar schon in der Überschrift: "75-35". Also 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre friedliche Revolution. Aber, wie Wolfgang Schäuble schrieb: Die Westdeutschen haben daran kein Interesse. Es gibt ein paar Sidekicks, hier eine Ausstellung, dort eine Lesung. Aber auch dort werden die Ostdeutschen eher problematisiert und nicht als Bereicherung dargestellt. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seinem Buch "Wir" doch genau dieses Doppeljubiläum betont. Urteilen Sie nicht ungerecht?
Ich gehe nicht davon aus, dass jetzt alle Bürgerinnen und Bürger diesen Essay lesen. Es geht um etwas Grundsätzliches – nämlich darum, dass die zentralen Verfassungsorgane, dass Bundestag und die Bundesregierung damit zu scheitern drohen, die deutsche Verfassung auch als gemeinsames deutsches Werk zu betrachten.