Olaf Scholz ist zurück aus der Sommerpause. Er will die Wirtschaft stützen, seine Kanzlerschaft in Schwung bringen. Das Problem ist: Er wird die Cum-Ex-Affäre nicht los, jenen Steuerskandal der Hamburger Privatbank Warburg, der ihm seit Jahren nachhängt.
Sagt Scholz in der Affäre die Wahrheit?
Dem stern liegen neue E-Mails aus seinem engsten Umfeld vor. Sie zeigen Unstimmigkeiten im Team des Sozialdemokraten. Und sie wecken Zweifel am Kern seiner Darstellung, sich an die Treffen mit der Privatbank nicht erinnern zu können. Es geht um einen Kalendereintrag, auf den Scholz sich berief – der von seinem eigenen Team allerdings unauffindbar war.
Was man wissen muss: Scholz traf sich in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister drei Mal mit dem Warburg-Aufsichtsratsvorsitzenden Christian Olearius, als gegen die Bank wegen Steuerhinterziehung ermittelt wurde. Der Bankier suchte Scholz‘ Hilfe, um eine Millionenrückforderung des Finanzamts wegen so genannter Cum-Ex-Geschäfte zu verhindern. Scholz bestreitet, in der Sache Einfluss genommen zu haben. Seine Treffen mit Olearius bestätigte er erst, nachdem sie medial öffentlich gemacht worden waren.
Bei den neuen Dokumenten geht es um das Treffen der beiden am 10. November 2017. Im Februar 2020, Scholz war inzwischen Bundesfinanzminister, wurde durch Medienberichte bekannt, dass Olearius den Termin in seinem Tagebuch vermerkt hatte. Im Nachgang der Enthüllung bestätigte Scholz‘ Sprecher Steffen Hebestreit, es habe ein Treffen der beiden im November 2017 im Amtszimmer des Bürgermeisters gegeben – "wie aus dem Kalender des Ersten Bürgermeisters hervorgeht".
Die Geschichte schlägt hohe Wellen. Scholz wird im Frühjahr und Sommer 2020 gleich zwei Mal im Finanzausschuss des Bundestages befragt. Er bestätigt dort das November-Treffen. Dass er sich zuvor noch zwei weitere Male mit Olearius im Hamburger Rathaus getroffen hatte, sagt Scholz den Abgeordneten nicht.
Die Suche nach dem Kalendereintrag
Auf Betreiben der CDU und der Linken richtet die Hamburger Bürgerschaft im Jahr 2021 den Untersuchungsausschuss "Cum-Ex Steuergeldaffäre" ein. Als erstes wollen die Abgeordneten Scholz vernehmen. Sie beantragen auch Einblick in seinen Kalender, auf den Hebestreit sich explizit berief.
Um die Kalenderanfrage aus Hamburg kümmert sich zunächst Jeanette Schwamberger, langjährige Büroleiterin von Scholz und bis heute eine seiner engsten Mitarbeiterinnen. Sie weiß um die mögliche Brisanz der Termine. Es sei "mit Olaf zu diskutieren", wie man die Termine "einsortieren" solle, schreibt Schwamberger an Wolfgang Schmidt, damals Staatssekretär und engster Vertrauter von Scholz. Das Verb einsortieren setzt sie in Anführungszeichen.
Die nächsten drei Wochen beschäftigt sich Schwamberger mit dem Kalender von Scholz, um dem Ausschuss Termineinträge präsentieren zu können.
Am 30. April 2021 muss Scholz vor dem Untersuchungsausschuss aussagen. Fünf Tage vorher bastelt Schmidt an einem Sprechzettel für Scholz. Per E-Mail schickt er um 19:10 Uhr Formulierungsvorschläge an Jeanette Schwamberger, Scholz‘ Büroleiterin: Die Warburg-Bank habe Rückstellungen gebildet und würde im Falle einer Verurteilung zahlen. Der Steuerzahler müsse "keinen Schaden befürchten", schreibt Schmidt und schlägt weiter vor: "Im November 2017 hat sich der damalige Erste Bürgermeister Olaf Scholz mit Herrn Olearius in seinem Bürgermeister-Amtszimmer zu einem Gespräch getroffen. Dies ist dem Dienstkalender des Bürgermeisters zu entnehmen."
Schwamberger antwortet um 22:30 Uhr: "Das irritiert mich", schreibt sie an Schmidt und Hebestreit, sie finde nichts in der Kalenderdatei. "Ich habe noch nie einen Termin mit Olearius von November 2017 im Kalender gesehen. Auch nicht einen Termin im Oktober 2017. Das ist alles merkwürdig, aber wir sind alle Kalender durch."
Angebliche IT-Probleme
Scholz hat nun ein Problem. Seit Monaten versichert er der Öffentlichkeit wie auch dem Bundestag, dass er keine Erinnerung habe an die Treffen mit den umstrittenen Privatbankiers, sie aber nach einem Blick in seinen Kalender bestätigen könne. Auch sein Sprecher hatte sich auf den Kalender berufen. Nur gibt es offenbar gar keinen Kalendereintrag zu dem Treffen im November 2017.
Schmidt lässt sich von Schwamberger in seiner Version nicht irritieren und schreibt um 22:56 Uhr: "Termin war im November 2017. Und ich erinnere auch, dass wir das gesehen hatten." Auf einen Kalendereintrag kann sich Scholz allerdings leider nicht mehr berufen. Die Recherche Schwambergers lief an dieser Stelle ins Leere.
Scholz‘ Erklärung vor dem Untersuchungsausschuss ist speziell. Aufgrund eines IT-Problems in seinem Finanzministerium seien im Kalender ab Mitte Oktober 2017 "ausschließlich Termine meines Amtsvorgängers, Bundesminister Altmaier" zu finden. "Insofern gehe ich davon aus, dass das Treffen stattgefunden haben wird, auch wenn ich daran keine eigene Erinnerung habe." Das klingt wie: Der Kalender ist zwar leider unvollständig, aber der Termin mit Olearius wird schon darin gewesen sein.
Gegen diese Version sprechen Erkenntnisse des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen. Die Behörde, die im Rahmen ihrer Ermittlungen ein damaliges E-Mail-Postfach von Scholz beschlagnahmte, hat dieses inzwischen in einem Vermerk ausgewertet. Und siehe da: Für den 10. November 2017 sind acht Termine festgehalten, von neun Uhr morgens bis 23 Uhr abends. Scholz hat demnach etwa ein Forschungszentrum in Hamburg besucht und die Konferenz einer bekannten Stiftung der Stadt eröffnet. Ein Termin mit Olearius ist nicht verzeichnet.
Das wirft viele neue Fragen auf. Wie kommt es, dass Scholz‘ Sprecher Hebestreit sich auf einen Kalendereintrag berief, der offenbar nie existierte? Auf welcher Basis konnte Scholz selbst den Termin bestätigen? Wenn es dazu keinen Kalendereintrag gab, muss die Bestätigung für das Treffen im November 2017 eigentlich auf Erinnerungen beruhen – aber die will Scholz ja angeblich nicht gehabt haben.
Kommt ein neuer Untersuchungsausschuss?
Er habe politisch keinen Einfluss auf die Frage der Steuerrückzahlung genommen, beteuert der Sozialdemokrat bis heute. Aber weshalb sollte man ein Treffen in seinem eigenen Arbeitszimmer nicht im offiziellen Kalender notieren, wenn es doch harmlos war? Mal wieder leidet die Glaubwürdigkeit des Kanzlers.
Fragen beantworten Hebestreit und Scholz nicht. Die Bundesregierung, deren Sprecher Hebestreit heute ist, lässt von einer Sprecherin ausrichten: "Bitte haben Sie Verständnis, dass das Bundeskanzleramt sowie das Bundespresseamt sich nur zu Sachverhalten im eigenen Zuständigkeitsbereich äußern können."
Womöglich werden beide aber noch öffentlich dazu aussagen müssen. Die Union will einen neuen Untersuchungsausschuss. Juristisch soll bald geklärt sein, ob und in welcher Form er kommt.