Die beiden berühmtesten Straßen der bayerischen Landeshauptstadt, die Kölner und die Münchner Straße, kosten elf Euro Eintritt für Erwachsene und acht Euro für Kinder. Und jeder kennt sie. Auch wer dort noch über das Kopfsteinpflaster lief, hat die Fassaden irgendwann im Fernsehen oder Film gesehen. Denn die beiden geheimnisvollen Gassen stehen auf dem Bavaria-Filmgelände in Geiselgasteig und verändern laufend ihr Gesicht.
In der Kölner Straße mit der Kneipe "Wilder Mann", der Diskothek "Foxy", Apotheke, Zeitungsladen, Polizeistation und knalliger "Super-Kölsch"-Reklame auf bröckelnden Hauswänden wird seit 16 Jahren die Vorabendserie "Marienhof" produziert. Die gewundene Münchner Straße mit Trambahngleis tauchte mal als Berliner Boulevard der zwanziger Jahre (für Ingmar Bergmans "Schlangenei") auf. Später stolperte Sophia Loren für "Brass Target" an gleicher Stelle durch rauchende Frankfurter Trümmer. Je nach Regisseurs-Wünschen glänzt sie als glamouröser Pariser Boulevard oder als Kulisse für eine Schneekatastrophe in den Alpen.
Wie ein Rundgang bei Ikea
Der Besucher fühlt sich wie beim Bummel bei Ikea: Nach jeder Biegung steht man in einer neuen Raumausstattung. Eine vornehme Villengegend wechselt abrupt zum düsteren Hinterhofmilieu, wo so mancher Mord geschah, den "Tatort"-Kommissare später aufklären mussten. Nur wenige Häuser besitzen ein Innenleben. Die meisten Gebäude sind eine Fata-Morgana-Fassaden aus Holz, Farbe und Pappmaché; von hinten gestützt durch wuchtige Balken.
Regisseure von Weltruf haben in dieser Illusionswelt gearbeitet: Max Ophüls, Orson Welles, Stanley Kubrick, Elia Kazan, Alfred Hitchcock, Peter Zadek, und Wolfgang Petersen. Auch die Liste der Schauspieler auf einem Gedenkplakat liest sich wie ein historisches Filmlexikon: Heinz Rühmann, Klaus Kinski, Hans Albers, Hildegard Knef, Gert Fröbe, Marika Rökk und Gene Kelly gaben sich hier die Kulissentüren in die Hand. Die Attraktivität der Bavaria-Filmstadt wirkt auch heute noch und lockt moderne Leinwand-Helden an. Besucher haben durchaus die Chance, plötzlich auf Til Schweiger, Gerard Dépardieu oder Dustin Hoffmann zu treffen.
Ortstermin in Geiselgasteig
Die Münchner Traumindustrie, eine der größten der Welt, liegt südlich der Stadtgrenze in Geiselgasteig am Isarufer und produziert seit über 80 Jahren Kino- und TV-Hits. Ihre Kulissenbauer gelten als fixe Szenarien-Zauberer, die Stuntmen als Allround-Heros. Auf dem 320.000 Quadratmeter großen Gelände ging die Titanic zweimal unter, wurde Frankenstein II. geboren und Ludwig II. in vollem Pomp wieder auferweckt - bevor er noch einmal im See ertrank.
Für die Dokumentation über die schillernde Künstlerfamilie "Die Manns" (mit Armin Müller-Stahl als Thomas Mann) wurde die abgebrannte Villa der Familie Mann in München-Bogenhausen eine Nummer größer auf dem Bavaria-Gelände nachgebaut. Inzwischen ent-stehen in dem hochherrschaftlichen Domizil immer neue Folgen der herzbewegenden Telenovela "Sturm der Liebe".
Die meisten Filmszenen aber werden ganz profan in einer der zwölf Studio-Hallen gedreht, wo Dekorationskünstler naturgetreue Kulissen kreieren. Die populärsten bleiben für die Gästeführungen stehen. Wie das stahlsargähnliche "Boot", das eins-zu-eins Innenmodell eines Weltkrieg-Unterwasserjägers, in dem Regisseur Wolfgang Petersen 1980 sein erfolgreiches Kino-Spektakel inszenierte. Der 67 Meter lange Rumpf ist auf eine Wippe montiert, die bei den Aufnahmen für die dramatischen Erschütterungen sorgte.
Jugendliche Besucher stürzen sich garantiert eher auf die jüngeren Highlights: Bully Herbigs "(T)Raumschiff Surprise", oder das gallische Dorf aus "Asterix und Obelix gegen Cäsar" mit Hinkelstein-Attrappe, Foltergeräten und Plastik-Krokodilen. Shootingstar ist derzeit das Schattenreich des Erfolgsstreifens "DWK5 - Die wilden Kerle, hinter dem Horizont" mit Jimi Blue Ochsenknecht alias Leon aus Stein in mystischem Licht.
Der Baader Meinhof Komplex: Zellentür Nr. 720
Die aktuellste Schaukulisse in der Bavaria-Filmstadt repräsentiert eine düstere Episode deutscher Zeitgeschichte: Den Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim, wo die Top-Terroristen der ersten RAF-Generation einsaßen, mit der Todeszelle von Gudrun Ensslin. Die echten Zellen der Justizvollzugsanstalt wurden längst gründlich renoviert. Doch Produzent Bernd Eichinger ließ einen Teil des grauweißen Gang aus dem berüchtigten siebten Stock mit den damals blauen Eisentüren, tristen Glasbaustein-Wänden und Lüftungschachten für seine Produktion "Der Baader-Meinhoff-Komplex" nach Fotos nachbauen. In seiner Dokumentation über die tragischen siebziger Jahre, als die blutigen Attentate der Roten Armee Fraktion die Republik erschütterte, spielen namhafte Darsteller wie Moritz Bleibtreu als Andreas Baader, Martina Gedeck als Ulrike Meinhof, Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin mit.
Hinter der Zellentür Nr. 720 mit dem unauffälligen Namensschild "Ensslin, Gudrun" liegt ein eckiger karger Knastraum mit undurchsichtigem Fenster. Das Inventar besteht aus einer schmutzig-weißen Kloschüssel ohne Deckel, dem passenden Waschbecken mit Seifenhalter und bruchsicherem Spiegel. Hinter einem Raumteiler steht ein quadratischer Holz-Metall-Tisch samt Stuhl vor einer kahlen Wand. Neben einem Bücherregal liegt eine Matratze mit einer braunen Rosshaardecke - Aufschrift "Justiz" - auf dem Linoleumboden. Alles Originale.
Die Terroristin saß dort fünf Jahre in dieser Umgebung, bis sie sich im Oktober 1977 mit einem Lautsprecherkabel erhängte. Die Gegenstände wurden nach dem Selbstmord der Pastorentochter im Gefängniskeller eingelagert und erstmals für den Film wieder ans Tageslicht befördert.
Besucher können den Gefängnistrakt auf ihren Filmstadt-Führungen jetzt besichtigen. Nach dem schaurigen Rückblick geht es fröhlicher weiter: Gleich nebenan wohnt der weise Drache Fuchur aus der "Unendlichen Geschichte". Das riesige Zotteltier muss alljährlich rundum erneuert werden, weil der erklärte Liebling aller Kinder durch ewiges Streicheln und Rumreiten sichtbar leidet.
Drehs in München
Nicht jeder Regisseur steht auf praktischen Kunstkulissen mit Allround-Illusions-Service. Viele bevorzugen das wirkliche Leben. Zumindest für Schlüsselszenen. Der Film über den jugendlichen Hitler-Widerstand: "Sophie Scholl - Die letzen Tage" entstand an den Original-Schauplätzen. Vor vier Jahren begannen die Dreharbeiten im Lichthof der Ludwig-Maximilans-Universität, am Justizpalast, und vor dem Scholl-Haus in der Schwabinger Franz-Joseph-Straße 13. Für den Bibelschinken "Luther" stand Peter Ustinow in seiner Rolle als Kurfürst von Sachsen drei Tage im prächtigen Gewölbesaal, dem Antiquarium der Münchner Residenz, vor der Kamera. Und die populäre Kabarettsendung des gewichtigen Ottfried Fischer, "Ottis Schlachthof", wird seit Jahren im bürgerlichen Wirtshaus am Schlachthof gedreht. Das geräumige, behäbige Backsteingebäude zählt seitdem zu den "in"-Lokalen Münchens.
Als Filmkulisse kann München eine bedeutende Vergangenheit vorweisen. Max Ophüls drehte wichtige Szenen seines Meisterwerks "Lola Montez" 1955 im Englischen Garten. Am Monopteros fand das erste filmische Rendezvous der berühmten Kurtisane mit dem bayerischen König Ludwig I. statt. Für seine Nachkriegs-Komödie "Wir Wunderkinder", mit dem Hansjörg Felmy den schauspielerischen Durchbruch schaffte, wählte Regisseur Kurt Hoffmann 1958 die Ludwigstraße, den angrenzenden Hofgarten und den Chinesischen Turm im Englischen Garten als zentrale Drehorte aus. In dem avantgardistischen Kunstfilm "Letztes Jahr in Marienbad" von Alian Resnais mussten das Schloss Nymphenburg und die nahe kleine Amalienburg samt Schlosspark die gewünscht bizarre Luxushotel-Atmosphäre liefern. Die Schauspieler in ihren Abendkleidern und Smokings sollen in den ungeheizten Prachtsälen mordsmäßig gefroren haben.
Der hippe Schwabinger Kultfilm "Zur Sache, Schätzchen", mit dem Uschi Glas' Karriere 1967 begann, spielt großteils in der Türkenstraße, der Nikolaistraße und im Ungerer Bad. Doris Dörrie dreht 1985 ihre "Männer"-Komödie über die lehrreich-komischen Verwandlungen eines Yuppies (Heiner Lauterbach) und eines Anarchotypen (Uwe Ochsenknecht) vor allem in der Münchner Altstadt. Im Springbrunnen am Stachus führen die beiden einen Siegestanz auf.
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