"Und nähme ich der Morgenröte Flügel und baute ein Haus zuäußerst am Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Wer bei Sonnenaufgang von den Wichtelhäusern im Süden der Insel auf das golden überglänzte Meer blickt, der kann kaum anders, als daran zu denken: Psalm 139, Vers 9. Die Flügel der Morgenröte, das Haus mit dem tief über die Ohren gezogenen Reetdach, der Nebel auf den Hecken. Immer ist hier ein Fünkchen Gott im Spiel.
Ist das vielleicht der Grund, warum selbst die, die bloß für zwei Urlaubswochen gemietet haben, sich ihre pastellenen Kaschmirpullis so selbstgewiss über die Schulter werfen, als gäbe es kein Schwarz in der Welt? Warum sie den Blick unverdrossen über Hügel, Heide und Kartoffelrosen schlendern lassen, wenn sie an die Buhne ziehen oder in die Sansibar? Unbeschwertes Schweben, glückliche Aussichten in Landhausfarben von Flamant. Und Wind natürlich, der alte Pustefix ist auch dabei.
Lieber Leser, in diesem Artikel werden Sie nichts über Putsch und Mord und Terror finden. Über den Tod vielleicht; aber nur am Rande. Hier geht es allein um jenen Insel gewordenen Sahneklecks im Meer, der das Ausschalten der rauen Wirklichkeit optimiert hat und das Wegblenden schlechter Nachrichten perfektioniert.
Sylt: Sehnsuchtsort in der Nordsee
In diesem Artikel geht es um Sylt. Um – ganz gleich, was die anderen sagen – einen Sehnsuchtsort in der Nordsee, eine Urlauberfantasie auf 55 Grad Nord und 8 Grad Ost. Um 40 Kilometer Strand mit lässig hingeworfenen Strandkörben und Frozen Yoghurt für Hunde in zwei Geschmacksrichtungen (Wildlachs, Rind, 90 ml drei Euro). Es geht um rot-weiß gepinselte Leuchttürme, Landschaften wie in Frodo Beutlins Mittelerde und frisch gefangene Makrelen zu völlig überhöhten Preisen. Aber Preise? Egal!
Die größte Gefahr auf der viertgrößten Insel Deutschlands ist ja nicht, sich in zwei Wochen Ferien komplett zu verschulden, sondern von einem elektrifizierten Rentner in Dreiviertelhosen über den Haufen geradelt zu werden, wenn man gerade arglos aus den Dünen trottelt und darüber sinniert, warum die Möwenschwärme im Morgenlicht von unten silbern schillern.
Cayenne, Panamera und Macan
Auch die Furcht, man könne am Strönwai von Kampen, den sie früher „Whiskymeile“ nannten und heute „Automeile“, weil Jaguar, McLaren und Bentley dort zu Pfingsten ihre Präsentationen aufbauen, von einem angeschickerten Porsche-Cayenne-Fahrer überfahren werden, ist unbegründet. Es sind halt diese unausrottbaren Klischees über das Reiche-Leute-Dorf auf dem Geestkern der Evolution: Cayenne, der Sylt-Golf! Stoßstange an Stoßstange, har, har, har! Heute rangieren meist Panameras, Macans und Range Rover vor Traditionskneipen wie Gogärtchen, Rauchfang und Pony. Und 911er natürlich. Die fahren hier schon.
Am ersten Augustwochenende allerdings lief gar nichts. Oben am Strönwai flatterte die BVB-Flagge des Eckhausbesitzers tapfer im rauen Wind, weiter unten zappelten goldene Luftballons und Mädchen auf Goldstelzen zum bewährten Um-ta-ta von Hütten-Hits. „I Will Survive“, denn ich „liiiiebe das Leeeeben“. Der Pony-Club feierte bis über die Straße seinen 55. Geburtstag, und 600 Gäste genossen den Rausch des gratis ausgeschenkten Champagners und manche den der heimlich eingeworfenen „Hug Drugs“. Alle waren höchst nett zueinander.
Es heißt, auch im Pony habe der überfällige Generationenwechsel der Insel begonnen. Der Sohn des Inhabers übernimmt jetzt den ältesten Club Deutschlands. Die Töchter und Söhne der Stammgäste übernehmen den Tresen. Man sieht seither auch Mittelklassewagen am Strönwai.
Doch egal, ob Golf mit Kennzeichen „H“, Mini mit „M“ und Mercedes mit „S“, fast alle, die zwischen Rotem Kliff und Sturmhaube parken, tragen die gekreuzten Säbel achtern, den berühmten Aufkleber der Sansibar. Nur die Minis natürlich nicht, mit denen die Polizei hier Streife fährt.
Daunen und Dünen
So, wie Katholiken und Protestanten mit einem Fischmotiv am Heck ihre Hinwendung zum Menschenfischer Jesus demonstrieren, so weisen sich die meisten der 900.000 Besucher, die jährlich über 15.000 Erstwohnsitz- Sylter kommen, als Anhänger der Seckler-Sekte aus. Herbert Seckler aus Rantum, das weiß ja jeder, ist ein rundlicher Mann von der Schwäbischen Alb, der 1977 eine bescheidene Pommesbude am Sansibar- Strand schuf und heute übers Wasser wandeln kann, weil er mit seiner Handelskette so viel Geld verdient hat, dass man ihn den „König der Insel“ nennt.
Die Leute rennen ihm die Bude ein. Viele tragen Mütze, Blazer und Sommerdaune, die sie zuvor online im Sansibar-Shop gekauft haben oder gleich um die Ecke in seinem Laden. Jeder weiß, dass man in der Sansibar Schauspieler sehen kann, Bosse, Kloppo, Gottschalk, H. P. Baxxter oder Sigmar Gabriel. Und wenn man Glück hat, kommt man noch selbst als Statist in die „Gala“ oder in die „Bild“.
Vor 14 Jahren, als das Kreuzfahrtschiff MS „Europa“ erstmals in Sichtweite vor Rantum anlegte und ihm die Gäste zum Feiern rüberspuckte, da hat Gloria Gaynor zwischen Vollmond und Strandhafer „I Will Survive!“ gesungen. Wer immer damals dabei war, sagt Seckler, der habe die Nacht niemals vergessen.
Wenn die MS "Europa" ankert
Birgit Schrowange von RTL war damals dabei, das ist sicher. Friede Springer eher nicht. Die geht fast immer früh nach Hause, weil sie offenbar nach Mitternacht selten etwas amüsiert, seit ihr Mann Axel tot ist. Den Bootsanleger hat vor Jahren eine Flutwelle mitgenommen, Gloria Gaynor ist fast 67. Heutzutage ankert die MS „Europa“ vor List und entlässt ihre Gäste brav zum Mittagessen in die Sansibar. Es ist alles ein bisschen weniger verrückt als damals, zu den Urzeiten des Inselhoppings, von deren Legenden die Insel bis heute zehrt.
Die Abkömmlinge jener wilden Eltern jedoch können gar nicht anders, als der Insel im Erwachsenenalter ebenfalls zu verfallen. Bei der Zeugung wurde ihnen ein Sylt- Abschnitt an die DNA gehängt. Die Folge: Wer hier als Kind Sandburgen baute, feiert hier im Strandkorb auch den ersten eigenen Hochzeitstag. Man kommt der Liebe wegen, lebenslang. Und zu Pfingsten, an Partywochenenden im Juli, August reisen schon die Enkel an. Sie kennen sich aus Kindertagen, aus dem Internat, aus Papis Firma. Sie alle sind gut miteinander, Doppel-Klippo! Und wenn sie im Roten Kliff oder in der Sturmhaube feiern, wackeln oben im Hotel Walter’s Hof noch mal die Betten der Großeltern.
Als Abfindung ein Reetdachhaus
Manche klagen trotzdem, es gebe die Typen nicht mehr, die Originale. Namen wie Peanuts Erdmann (Münchner Architekt), wie Bübchen Pünjer (Modehändler), soignierte Herren wie Berthold Beitz (Krupp), Hasardeure wie die Hamburger Journalisten, die mit ihren Ehefrauen auf die Insel kamen und sie mit den Ehefrauen ihrer Chefs wieder verließen. Und Gattinnen, die nach der Scheidung mit präsentablen Reetdachhäusern abgefunden wurden, die sie erst einmal um die eigene Achse drehen ließen, weil ihnen der Blick nie gefallen hatte.
Komisch, dass einem jetzt Johannes B. Kerner in den Sinn kommt. Vielleicht, weil auch der soeben Getrennte ein Haus auf Sylt besitzt, wo die Grundstückspreise bekanntlich so hoch sind wie nirgends sonst in Europa? Kerner wohnt in Morsum, Wattseite. So weit kann man es mit dem Quizmastern bringen.
Und was die originellen Namen betrifft – auf der Geburtstagsfeier des Pony hielt, flankiert von zwei Bardot-Blonden, sogar die ehemalige Hamburger Rotlichtgröße Kalle Schwensen Hof. Also wenn das kein Name ist!
Gucci und Begonien
Vor einer Weile haben die Erben des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein übrigens sein historisches Refugium im Nachbarort Archsum verkauft. Und alle Wiesen drum herum dazu. Augstein wollte damals die Flügel der Morgenröte und den unverbaubaren Blick, weshalb er alles aufgekauft hatte, was Immobilienhaien und Investoren ins Sichtfeld hätte geraten können. Ohne Streit, sagen Familienkenner, sei das Verscherbeln allerdings intern nicht abgelaufen. Die Kindheitserinnerungen, das Kindersommerlachen, alles futsch jetzt. Die „Sylter Rundschau“ schrieb, der Alte würde sich im Grabe umdrehen. Würde er tatsächlich vielleicht gern.
Augstein liegt auf dem Keitumer Friedhof von St. Severin in zweiter Reihe. Zu einer Grabstelle mit Wattblick hat er es auf der Warteliste nicht mehr gebracht. Fritz J. Raddatz dagegen, der von ihm einst kameradschaftlich verspottete Großkritiker, liegt gleich hinter der Mauer. Beste Lage also, aber Fleißige Lieschen. Das ist auch so eine Sylt-Lehre: Am Ende ist es egal, wie reich und wie berühmt du warst. Am Ende blühen Knollenbegonien (Augstein) und rote Lieschen (Raddatz) auf deinem Grab.
In Morsum übrigens haben sie derzeit nur ein Thema: Wem gehört die A319, die auf dem Westerländer Flughafen parkt? Privat-Airbus. Es heißt, dass irgendein Industrieller, der 300.000 Leute beschäftige, ein altes Haus in Morsum gekauft habe, drei Etagen à 120 Quadratmeter, alles vom Feinsten restauriert, nie mehr ein fischiges Lüftchen in den Ritzen. Aber wer ist es, ein Oligarch? Und sind es vielleicht nur 30.000 Angestellte? Wird man den Neuzugang bald in weißen Gucci-Slippern, lavendelfarbenem Kaschmir am Hals und Hosen im Mimosenton bei Seckler am Tisch sehen? Wie spannend!
“Die Kohle muss weg“
Wo wir gerade noch einmal bei Seckler sind. Am Abend kommt der Gastrotainer dann natürlich aufs Kreuzfahrtschiff und hält eine kleine Ansprache. Das warme Büffet geht über Steuerbord, das kalte über Backbord, Sansibar-fusion-kitchen. Austern, Königskrabben, Crème brulée.
Inge, 67, und Jürgen, 72, Hollmann aus Wuppertal-Elberfeld sind seit acht Jahren dabei. Mittags auf ihrem Stammplatz vis-à-vis zum Tresen, an dem sich die Hollister-Boy-Kellner ihre Aufträge abholen. Abends hocken sie dann auf Beobachterposten vor der Bühne und beim Essen im VIP-Bereich.
Als der Dampfer in diesem Juli vor der Insel Halt machte, stiegen Wolfgang Kubicki von der FDP und der Bergdoktor vom ZDF zu. Sportmoderator Waldemar Hartmann erschien mit einer jungen Frau im Emo-Style, tiefschwarz und kalkweiß gemalt. Und überraschenderweise war es seine. Literaturgestein Elke Heidenreich und Friede Springer plauderten auf dem Lido-Deck. Schmachtend ging die Sonne am Ellenbogen unter, dann kam das Feuerwerk. Dass der Graf von Faber- Castell abgesagt hatte, störte die promibegeisterten Hollmanns nicht. Das Ehepaar ist kinderlos, aber dafür geldlich so gesegnet, sich Seereisen auch dreimal im Jahr leisten zu können. Es solle nichts übrig bleiben, sagte Jürgen. „Die Kohle muss weg“, ergänzte Inge. Ja, bei Gott: Die Hollmanns verstehen es zu leben! Ihr Stil heißt Sylter Royal.
Beim Matjesbrötchen im Gosch
Bei Seckler kommt so was an. Und auch sein Konkurrent am anderen Ende der Insel, Jürgen Gosch, hört solche Sätze gern. Der Hummermann von List ist König Nummer zwei, was ihn wohl ein bisschen schmerzt, denn Gosch, 75, war eher da. Im kommenden Jahr feiern er und seine 470 Insel-Angestellten Goldjubiläum. „Wer bei mir ins Matjesbrötchen beißt“, sagt der stets etwas maulig wirkende Ex-Maurer vom festländischen Tönning, „der ist für mich ein Promi.“ Es klingt wie ein Seitenlupfer gegen den König.
Gosch hat aus einer Bootshalle am Lister Hafen ein Erlebnisrestaurant gemacht, in dem auch die mit den in die Jahre gekommenen Arschgeweihen sitzen. Er besitzt Lokale in Westerland, fast jeder Großbahnhof, fast jede Kaufhaus-Exklusiv-Abteilung führt Gosch. Er hat zuletzt einen arglosen Abschnitt an der Wenningstedter Promenade in ein Teletubbie- Land verwandelt, in dem er Scholle und Stint verkauft. Er hatte sogar Willy Brandt schon zu Gast. Aber zwei Dinge hat er nicht – die Mystik der Sansibar-Düne und die Magie des Promiwirts. Und diese Erkenntnis muss wehtun.
30.000 Flaschen im Dünenweinkeller
„Ich kenn dich irgendwoher“, sagt Seckler zu einer Langhaarigen im weißen Kleid. Es ist windstill, es ist Sommer. Gleich werden die Tenderboote ablegen zur MS „Europa“. Abendgast Regina Ziegler, die in Berlin weltberühmte Filmproduzentin, trägt Lila zum feuerroten Haar. „Ich bin doch die Svenja“, sagt die Schöne in Weiß, „ich war mal die Freundin vom Til Schweiger.“ Ach ja, Menschenskind, klar, Svenja!
Man kann nicht sagen, dass es tagsüber elitär zuginge beim Herbert. Denn dann sitzen die Touris draußen an Biergarnituren im Sand, Backe an Backe. Rentner aus der Oberpfalz, Familien aus Unterfranken und Joachim Hunold von Air Berlin. Vor zwei Wochen schnupperte auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel kurz in die Strandbude. Wahrscheinlich hatte ihm wieder keiner gesagt, dass sein großes Vorbild Willy damals in dem anderen Schuppen war.
Auf der Karte stehen Milchreis, Spaghetti und Dry-Aged-Beef, Weine auf 50 Seiten. Man wird ganz kirre über all den Rieslings und Gran Crus. 30.000 Flaschen sollen unter der Hütte im Dünenweinkeller schlummern. Ein Millionenschatz. Und wenn ein Magnum-Unternehmer am Abend, wenn es exklusiver wird, keinen Tisch kriegt oder ein Topmanager nicht rechtzeitig reservieren ließ, dann gibt es auch schon mal Beleidigendes am Telefon. „Das Schlimme ist“, sagt Seckler, „dass die Leut’ dann denken, sie wären nicht gut genug.“ Traurig.
Er habe „nie eine Idee gehabt für das hier“, erklärt Seckler, „ich treibe so dahin.“ Aber es gab doch sicher einen Plan? „Ich hasse Pläne“, sagt er, „Meetings und Konzepte hasse ich auch.“ Heißt das, wenn man keinen Plan fürs Leben hat, alles auf sich zukommen lässt und im rechten Moment Ja sagt, wird man dann glücklich? „Ja“, sagt Seckler in seinem Haus zuäußerst am Meer, „das haben Sie schön gesagt.“
Geliebte hinter der Wanderdüne
Man muss das natürlich mögen. Dieses Gefühl, dass einem der Wind dauernd durch Haare geht. „Pockennarrisch“, nennen Tiroler es abfällig, wenn er so weht. Wie die afrikanischen Flüchtlingsfrauen es nennen, die man gelegentlich in der Fußgängerzone von Westerland sieht – keine Ahnung. Aber es ist unbestritten, dass die Belüftung für jeden ihr Gutes hat. Nach einem Spaziergang fühlt man sich, als hätte jemand ein frisches Duftbäumchen im Hirn aufgehängt. Dem einstigen „Bild“-Chefredakteur Peter Boenisch soll deshalb nach der ersten Mondlandung die Schlagzeile „Der Mond ist jetzt ein Ami“ gekommen sein.
Drehbuchautor Wolfgang Menge ersann zwischen Watt und Wolken die „Ekel Alfred“- Serie und Oswald Kolle den Aufklärungsfilm. Der Medienmogul Axel Springer (1912–1985) hatte Jahrzehnte vor der Erfindung der Scheinselbstständigkeit im Verlagsgeschäft den Einfall, „Seid nett zueinander“ als Hausmotto auszugeben. Er soll nach Auskunft eines Biografen damals häufig nachts von seinem Anwesen geschlichen sein, um hinter den Lister Wanderdünen seine Geliebte, die Friede, zu treffen. Und am Ende kommt noch heraus, dass Henri Nannen auf Sylt sein Magazin erfand. Denn auch der stern-Gründer urlaubte hier und besaß später ein eigenes Haus im Wind von Keitum.
Mit dem Bentley zu Edeka
Those were The Days my Friend, als der Sachs und La Bardot noch an Buhne 16 badeten und Fernsehnasen es bei „Karlchen“ krachen ließen. Jetzt ist schon ein Hingucker, wenn Günther Jauch mit seinem roten R4 vom Haus in Westerheide zum Brötchenholen fährt. Man sieht manchmal die Ottos, die Netzers, die Ex von Alain Delon. Andere halten sich eher unsichtbar. Nur Einheimische wissen deshalb, wo der stets im Eigenen brötelnde Theo Albrecht Jun. sein Haus auf der Insel hat. Die Information fußt auf dem Bericht eines Handwerkers, der mit dessen Chauffeur ins Gespräch gekommen sein will. Beide fahren G-Klasse, und Albrechts Chauffeur fragte nach dem Weg. Seither schleicht der Milliardenerbe als Phantom der Aldis durch Kampen.
Dann ist da noch der Mediator und Fotosammler Clemens Vedder. Der 69-Jährige residiert seit Ende der 90er Jahre von Zeit zu Zeit im elegischsten aller Anwesen: Haus Kliffende zwischen Rosen, Dünen, Strand und einer Gedenkplakette, die an die jüdische Malerin Anita Rée erinnert. „Ich weiß noch gar nicht, wie lange ich hier auf diesem Eiland, wo jetzt die teure und widerliche Hochsaison einsetzt, noch bleibe“, steht auf der Bronzetafel. 1933 machte Anita Rée in Kampen ihrem Leben ein Ende. Unschönes Thema. Ausblenden!
Mit einem einfachen Lottogewinn ist eine Hütte wie Vedders „Kliffende“ jedenfalls nicht zu bezahlen. Da muss man schon Jackpot-Gewinner sein. Es sei nur so, sagen die Kampener, dass Vedders Hausmeisterpaar viel öfter darin wohne als er selbst und die Fenster für ihn auf Verdacht geputzt halte. Ferienhausschicksal „Privatier mit abgeschlossener Vermögensbildung“, so hat sich der gelernte Kölner mit Firma auf den Kaiman-Inseln (Goldsmith Capital Partners) gern selbst genannt. Diejenigen, die mit dem robusten Finanzjongleur geschäftlich zu tun hatten und haben, finden oft weniger schmeichelhafte Attribute. Manchmal stiehlt er sich im kleinen Fiat davon. Er ist keiner von den Kleinmillionären, die mit dem Bentley zu Edeka fahren.
Botox und Detox
Bei Vedder gab es soeben wieder schweren Auf-Galopp. In dem Haus, das Besucher wie Thomas Mann und die Seinen bereits überstand und selbst Hermann Göring und Roland Freisler, da kamen am vorletzten Wochenende 250 Gäste in historischen Kostümen zusammen.
Der herbstblonde Vedder liebt Mottopartys. Genauer: „Hippie- Partys“ für Menschen, die sich von ihrem früheren Anzugleben entschlacken wollen. Es hat schon was, Hessens Ex-Ministerpräsident Roland Koch im Flower-Power-Hemd zu sehen, den ehemaligen Deutsche-Bank-Chef Jürgen Fitschen in Walle-Walle oder die inzwischen 60-jährige Inga Humpe als Janis Joplin.
Strandhaus an der Abbruchkante
Es gibt auf Sylt eigentlich nur eine goldene Regel zu beherzigen. Wer zu Vedder geht, geht nicht zu Baumann! Nebenregeln: Wer bei Vedder nicht tanzt, wird nicht mehr eingeladen. Wer bei Baumanns tanzt, will zeigen, dass er noch kein Rheuma hat. Bei Clemens tragen Männer Perücken, beim Manfred rote Hosen. So teilt sich der große Kampener Familienfeierabend. Denn der Investor mit Wohnsitzen in Palm Beach und am Zürichsee lud ausgerechnet an jenem Tag ein, an dem traditionell und seit 40 Jahren das Krebsessen des Ex-Werbers Baumann stattfindet.
So tanzten in diesem Jahr bei Vedder Ex-Ehefrauen der Society, die einst bei Baumann Krebse pulten, während deren geschiedene Ehemänner mit der Zweit- oder Drittfrau bei Baumanns einem Vortrag von Kurt Biedenkopf zur „Bevölkerungsentwicklung seit 1930“ lauschten.
Statistiker registrierten, dass der Reeder Bertram Rickmers schon zum zweiten Mal mit einer Frau erschien, die in Vorjahren noch an der Seite eines anderen prominenten Gastes Platz genommen hatte. Gabriele zu Leiningen, ehemalige Begum, und ihre Mutter zieht es dennoch weiterhin zu den Baumanns. Sabine Christiansen auch. Oder allgemeiner gesagt: Hier läuft die Botox- und bei Vedder die Detox-Party. Bis der Tag anbricht, bis die Flügel der Morgenröte jedes Ach verwischen. Und frischer Wind die schwarzen Gedanken verweht.
Das göttliche Strandhaus zuäußerst am Meer steht übrigens zum Verkauf. In Hörnum, direkt an der Abbruchkante.