Als es dann wirklich passiert, spüre ich keine Todesangst, nur Euphorie. Alles, was nun geschieht, sehe ich in Zeitlupe, Sekunden dehnen sich zu Stunden. Ich stehe angewurzelt wie die Douglasfichten um mich herum auf dem Wanderpfad und starre in das Unterholz. Von dort starrt es zurück. Wie paralysiert starren wir uns an, der Bär und ich. High Noon am Hang.
Merk dir drei Überlebensregeln, wenn du hier wandern gehst, hatte Paul Lapierre gesagt. Erstens: Nicht weglaufen, sonst wirst du zur Beute. Die Bären haben im Normalfall nämlich kein Interesse an dir. Zweitens: Achte auf die Windrichtung, wenn du das Spray benutzt. Wenn der Wind in deine Richtung bläst, haut es dich selbst um, es ist zehnmal stärker als herkömmliches Pfefferspray. Drittens: Sprühe erst, wenn dein Puls auf 180 rast. Wenn du nämlich ruhiger bist, heißt das, dass du noch nicht nah genug am Bär dran bist, um ihn zu betäuben.
Bärenspray im Rucksack
Pauls Regeln hatte ich mir gemerkt, sie erschienen mir sinnvoll. Der Naturbursche und Guide durchwandert seit 30 Jahren unfallfrei den Banff-Nationalpark in der kanadischen Provinz Alberta, das macht ihn zu einer Autorität. Als ich Paul zuhörte, hatte ich allerdings nicht darüber nachgedacht, ob ich wirklich dazu fähig sein würde, auf die Windrichtung zu achten oder auf meinen Puls, wenn 20 Meter vor mir ein Grizzlybär auftaucht.
Ein echter Grizzly, das weiß ich jetzt aus eigener Anschauung, kann einen nämlich ziemlich durcheinanderbringen. Steht ein Grizzly vor dir, wirft es dir alle guten Ratschläge über Bord. Steht ein Grizzly vor dir, guckst du nur. Und staunst über seine Größe, sein zottiges Fell, seinen unergründlichen Blick. Es ist einer dieser Momente, die sich in deinen Erinnerungsschatz einbrennen und dich staunen lassen über die Majestät der Natur.
Irgendwann fällt mir auf, dass ich das Bärenspray dummerweise im Rucksack verstaut habe. Ich zittere ein wenig, die Angst hat sich endlich in meinen Körper geschlichen. Gleichzeitig traue ich mich nicht, den Moment zu zerstören und den Reißverschluss zu öffnen. Der Grizzly bewegt sich. Ich kann es nicht. Ich stehe inmitten Kanadas erstem und wohl schönstem Nationalpark, inmitten eines Unesco-Weltnaturerbes, inmitten von gut 6500 Quadratkilometer Rocky-Mountains- Pracht, inmitten tiefgrüner Fichten und Kiefernherrlichkeit, in einer Welt voller Spektakel: am Horizont die Gletscher, am Wegesrand die Wasserfälle, deren klares Wasser sich in die Seen unter mir ergießt.
Ich habe Nadeln aus den Ästen der Douglasfichte gerupft und zwischen den Fingern gerieben, bis ein Duft aufstieg wie Weihnachten. Ich habe dem Knacken, Ächzen, Wispern des Waldes gelauscht und schon seit Stunden keine Menschenseele gesehen. Habe in einer heißen Quelle gebadet und Bachwasser getrunken, klar und kalt und köstlich.
Mitten zwischen Tieren
Ich habe gehofft, einige der Tiere zu sehen, die hier in so großer Zahl ihr Refugium gefunden haben: Elche, Dickhornschafe, Maultierhirsche, Murmeltiere, Marder, Bergziegen, Wölfe, Schwarzbären und Grizzlys. Nun sehe ich den Grizzlybären und verstehe die Ehrfurcht der Menschen, die hier im Nationalpark leben. In Banff, dem kleinen Hauptort des 1885 gegründeten Naturschutzgebiets, erzählen die Bewohner vom Zusammenleben mit den wilden Tieren, man muss nicht lange darauf warten.
Sie berichten, dass im Ort niemand Obst oder Gemüse im Garten anbauen darf, weil das die Bären anlocken würde. Dass hier die Regeln des Parks gelten und deshalb auch nicht mehr gebaut werden dürfe. Dass es verboten sei, Steine und Pflanzen vom Wegesrand mit nach Hause zu nehmen. Dass für die Tiere hier alle Anstrengungen unternommen werden, indem man Straßen umzäunt und Tunnel unter ihnen hindurchführt. Sie erzählen davon, dass Hirsche im Winter Zuflucht suchen vor den Wölfen und sich auf der Hauptstraße von Banff versammeln, als wäre es eine Lichtung im Wald. Und von Schwarzbären, die sich hierher verirrt haben.
Und Paul Lapierre kann sogar davon berichten, wie seine Tochter im vergangenen Frühling gerade mit ihrem Highschool- Rugbyteam "The Bears" trainierte, als ein Grizzly auf dem Spielfeld vorbeischaute. "Für uns hier kein Grund zur Panik", sagt Paul. "Die Spielerinnen gingen einfach auf die andere Seite des Feldes und warteten, bis der Bär abzog."
"Hier will ich bleiben"
Paul kam vor 30 Jahren in den Nationalpark. Er war losgetrampt, wollte weg von zu Hause in der Mitte Kanadas, in Richtung Westküste. An einer einsamen Kreuzung hielt ein Lastwagenfahrer, der sagte: Ich kann dich mitnehmen zum Hotel am Lake Louise im Banff- Nationalpark. Es war die Zeit vor dem Internet, Paul hatte noch nie von diesem Ort gehört, trotzdem fuhr er mit, damit seine Reise weiterging. Er ahnte nicht, dass sie hier enden sollte. "Als ich den See das erste Mal sah, musste ich stehen bleiben, der Anblick war so schön, dass es mir fast den Boden unter den Füßen wegzog", sagt Paul. "Mein erster Gedanke war: Wow. Mein zweiter Gedanke: Hier will ich bleiben."
Das tat er, zunächst arbeitete er im Hotel, dort lernte er auch seine spätere Frau kennen. Noch heute ist er wie verzaubert von diesem Gletschersee, der wohl längst zu den am meisten fotografierten Seen der Welt gehört. So verzaubert, dass er ihn gewissermaßen zu seinem Beruf gemacht hat und Wanderer in die angrenzenden Berge führt.
Tiefblau schimmert das Wasser des Sees im Frühling, im Laufe der Monate verwandelt der Gesteinsstaub des Gletscherwassers seine Farbe in einen atemraubenden Jadeton, die Berge spiegeln sich so großartig darin, dass man sich nicht sattsehen kann, vor allem wenn man sich eines der roten Kanus geliehen hat und am frühen Morgen den stillen See durchpaddelt.
Eisige Naturwunder
In Reiseführern liest man oft von einer "Magie des Ortes", hier, und nur hier, darf man diese Floskel benutzen. Auch Paul tut das. Er erzählt, dass das Wasser des Sees selbst im Sommer nicht wärmer als zehn Grad wird. Dann lacht er: "Ich habe hier meinen Kindern das Schwimmen beigebracht, es ging schnell."
Eine seiner Lieblingswanderungen führt ihn am See entlang und dann den "Plain of Six Glaciers"-Wanderweg hinauf, an den Klippen erproben sich Kletterer, es geht durch urtümliche Wälder und über Lawinengeröll, bald fiepen Murmeltiere in den Hängen, und das Eis eines großen Gletschereisblocks am Wegesrand kühlt den Schweiß auf der Stirn. Manchmal trinkt Paul im Plain of Six Glaciers Tea House auf 2100 Meter Höhe einen Tee und isst einen der köstlichen, hausgemachten Scones.
Öfter aber treibt es Paul Lapierre weiter in die Berge hinauf, dann kraxelt er noch höher auf einen Aussichtspunkt, setzt sich hin, staunt über den mächtigen Victoria-Gletscher und grübelt über seine nächste Angeltour zu entlegenen Seen oder in schwereren Momenten auch darüber, ob seine Enkelkinder hier noch dieses Naturwunder bestaunen können – in den vergangenen 170 Jahren ist die Eismasse des Gletschers um 1,6 Kilometer weggeschmolzen.
Auf der schönsten Straße der Welt
Auf Pauls Empfehlung fahre ich am nächsten Tag von Lake Louise aus auf dem Icefields Parkway in den Ort Jasper im Norden. Die schönste Straße der Welt, hatte Paul gesagt. Viele Leute würden auf ihr einen Tag verbringen. Nach seiner Ansicht müsste man hier aber sein ganzes Leben sein, um der Schönheit gerecht zu werden. Gletscher, Wasserfälle und spektakuläre Seen flankieren die Straße, sie führt durch lange, dicht bewaldete Flusstäler, die sich in den Bergen heben und senken.
Über sie gelangt man ins Bow Valley. Hier hat man im Sommer gute Chancen, Grizzlys zu sehen, auch wenn es nur noch wenige in der Region gibt, 40 bis 60 von ihnen durchstreifen den Banff-Nationalpark. Im Sommer finden sie hier Beeren, Wurzeln und Kräuter, die sie bis zu 18 Stunden am Tag in sich hineinstopfen, gut 36 Kilogramm Nahrung am Tag, um sich gut 13 Zentimeter Fett anzufressen, Wärmeschicht und Energiereserve für den Winterschlaf.
Am Rand der Straße finden sich immer neue Ausblicke und Wanderwege, und wer will, der ist selbst im besucherreichen Sommer schon nach wenigen Minuten Fußmarsch für sich allein mit der Natur.
So allein wie ich in diesem Moment mit dem Grizzlybär. Er geht aus seiner Deckung im Gebüsch. Starrt mich mit seinen dunklen Augen an. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Dann dreht er seinen Kopf und verschwindet im Unterholz. Als meine Beine mir wieder gehorchen, gehe ich langsam zum Auto zurück. Und in meinem Kopf formt sich ein Gedanke, der vor 30 Jahren schon Paul erfasst hatte, als er das erste Mal in den Banff- Nationalpark kam und am Ufer des Lake Louise stand: Wow!
