Er harrte lange aus, fast einen Monat zierte sich sein Gast, mochte sich nicht drängen lassen. Paul Nicklen verstand. Er wusste um die, nun ja, Befindlichkeiten seines Besuchers. Ein wenig anders gepolt sind sie nun mal hier oben in Svalbard, Spitzbergen, jenem norwegischen Archipel, der wie ein Vorort des Nordpols im Arktischen Ozean ruht.
Nicklen glaubt an die Kraft des Respekts jenen gegenüber, deren Heimat dieser Landstrich ist. Wer Respekt zeige, bekomme keine Probleme. "Ich habe nie eine gefährliche Begegnung mit einem von ihnen erlebt. Ich lasse sie das Tempo bestimmen. Sie müssen relaxt sein", berichtet er an einem Morgen in seiner jetzigen Heimat, in British Columbia, Kanada.
Irgendwann, ein Sturm trieb gerade draußen übers Land, da habe er dann tatsächlich vor dem Fenster gestanden und hereingelugt, dieser so erhabene Eisbär. "Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit erfüllte mich damals in diesem Moment."
Keine Angst verspürt?
"Die einzige wirklich gefährliche Spezies ist der Mensch. Er ist unstet, schwer einzuschätzen. Da reicht schon die Wut im Straßenverkehr, in den USA etwa lebt man da mit all den Waffen gefährlich."
3000 Polarbären habe er in seinem Leben fotografiert, ein Problem habe es nie gegeben. Dass er schon früh ein Teil ihrer Welt war, mag geholfen haben. In einer 200-Einwohner- Gemeinde auf Baffin Island im Norden Kanadas verlebte Nicklen, heute 50, seine Kindheit, die Mutter Lehrerin – "und somit meine Lehrerin, schöner Mist". Der Vater war mit der Wartung schwerer Maschinen betraut.
Einmal jährlich kamen die Lebensmittel mit dem Schiff. Eine von nur vier Nicht-Inuit-Familien waren die Nicklens, der kleine Paul lernte also von jenen, die immer schon das Eis ihr Zuhause nannten. Heute berichtet Nicklen von einer Kindheit, die der Autor eines Kinderbuches nicht schöner hätte ersinnen können. "Wir waren immer draußen. Wenn du dort lebst, hält dich nichts im Haus. Wir haben Seehunde gesehen, Eisbären, wir spielten unter dem Polarlicht. Wir hielten unsere Welt buchstäblich in der eigenen Hand." Er nennt seine Kindheit "real-life-Avatar" – zu idyllisch, um wahr zu sein.
Auf Socken auf dem arktischen Eis
Es ist die Liebe zur Natur, die einen der renommiertesten Outdoor-Fotografen der Welt zu einem Aktivisten gegen den Klimawandel machte. Er hat dies mit Männern wie dem französischen Unterwasser-Fotografen Laurent Ballesta gemein, in der Nähe Montpelliers, nah am Mittelmeer groß geworden. Wer mit beiden lange spricht, entdeckt einen gemeinsamen Kern, der sich früh ausgebildet haben muss und sie in die entlegensten Winkel unseres Planeten führt.
Bis heute zieht es Nicklen immer wieder zurück ins Weiße, ins Kalte. Er sagt, er finde seinen wahren Frieden dort, wo die Zivilisation endet und sich Flora und Fauna zumindest augenscheinlich unberührt selbst überlassen sind. "Ich bekomme neue Energie, wenn ich allein in der Natur bin. Sie ist so pur, komplett", sagt er. Wohl auch deshalb geht eine herbe Ruhe von ihm aus, die Ballesta genauso auszeichnet.
Biologie studierte Nicklen und arbeitete als Wildbiologe in Yellowknife im Norden Kanadas, bevor er mit 26 Jahren kündigte und seiner wahren Bestimmung folgte: der Fotografie. 2005 reiste er zum ersten Mal in die Antarktis und ist seither 15 Mal zurückgekehrt, um unter Wasser, an Land und in der Luft Schönheit wie Verletzlichkeit jener Spezies zu dokumentieren, die längst vor der Ausrottung betroffen sind. Dazu kamen regelmäßige Expeditionen in die Arktis.
"Ich kann Kälte gut ertragen"
Ein Generalist unter den Naturfotografen ist Nicklen, über der Erde, unter Wasser, aus allen Perspektiven fotografiert er. Die so scheuen Narwale mit ihren mächtigen Stoßzähnen, Lanzen gleich, erwartete er eine Stunde auf Socken – jedes Knarzen des Eises ließe die Tiere verschreckt abtauchen. "Ich stelle mir jedes Bild genau vor, bevor ich es mache, es gibt 10.000 von einer Situation, bevor das Richtige dabei ist."
Er liebt die arktische Weite, die Klarheit ihrer Konturen; wenn es ein natürliches Habitat für ihn gibt, so liegt es hier. Aber was ist mit der Einsamkeit, was ist mit der Kälte? "Was ist mit der Hitze in den Tropen? Was ist mit dem Lärm der Autos in den Städten? Was mit dem ganzen Blech?", fragt er zurück. "Ich kann Kälte gut ertragen, das ist sicher ein Glück. Solange man nicht nass wird, ist alles gut. Erst dann wird es gefährlich."
Nicklen will seine Arbeit nicht als Selbstzweck, sondern als konservierende Fotografie verstanden wissen, Bilder können bewegen, die Herzen der Menschen gewinnen. Ein stiller Aufruf sollen seine Fotos sein, der Erderwärmung Einhalt zu gebieten. Sie hat schon jetzt zu viele Opfer gefordert, nicht nur unter den Tieren.
Der durchs Fenster blickende Eisbär löst heute bei Nicklen vor allem Wehmut aus. Es weckt die Erinnerung an einen verunglückten Freund: "Er war damals mit mir auf der Expedition. Zwei Tage nach dem Ende ist er mit dem Snowmobil über das Eis gefahren und eingebrochen, weil Bereiche plötzlich nicht befahrbar waren, die es immer gewesen sind."
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