1996 passte alles zusammen. Die Mannschaft hatte sich gefunden, hatte mit dem Dortmunder Matthias Sammer einen unumstrittenen "Kopf" auf dem Platz, mit Jürgen Klinsmann einen diplomatischen, aber durchsetzungsfähigen Kapitän, mit Dieter Eilts einen herausragenden Kämpfer im Mittelfeld, mit Oliver Bierhoff einen treffsicheren Joker und mit Andy Köpke einen sicheren Rückhalt zwischen den Pfosten. Strukturen eines absoluten Siegerteams. Kein Zufall, dass hier der heutige DFB-Sportdirektor, der ehemalige Bundes- und künftige Bayern-Trainer, der erfolgreiche Coach der U 21, der Team-Manager der Nationalelf und der Bundes-Torwarttrainer zusammen in einem Team standen, denn diese Spielergeneration sitzt inzwischen an den Schalthebeln der Macht in der Nationalelf und bei vielen Bundesligisten.
Erfolgsorientiertes Kollektiv
Bundestrainer Berti Vogts holte im alten Wembley-Stadion im dritten Anlauf den ersten Titel und widerlegte zunächst die lauten Stimmen, die schon 1994 seine Demission gefordert hatten. Sein Erfolgsgeheimnis war, dass diesmal die Macht geteilt wurde. Vogts verzichtete auf den alternden Lothar Matthäus und gab der Mannschaft, alle voran Sammer und Klinsmann, ungewöhnlich große Mitspracherechte. Wie selten in der Geschichte trat die "Klasse von 96" geschlossen auf, präsentierte sich als homogene, erfolgsorientierte Einheit und ist nach zwölf langen Jahren ohne Titel fast ein Mythos geworden.
Die Gruppenspiele wurden ohne große Probleme überstanden, im Viertelfinale war es gegen die starken Kroaten vor allem ein überragender Matthias Sammer, der den Unterschied ausmachte. Mit einer Energieleistung erzielte er den entscheidenden Treffer und zeigte vielleicht sein bestes Länderspiel überhaupt. Im Halbfinale kam es zur Wiederauflage des Italia'90-Semifinales gegen England, mit ähnlichem Verlauf und gleichem Ausgang. Diesmal hielt Köpke den letzten englischen Strafstoß von Gareth Southgate, und Möller verwandelte zum Finaleinzug - das Aus für Gascoigne, Shearer und Co.
Das letzte Aufgebot
Der Abend des 30. Juni 1996 ist warm, es geht ein angenehmer Wind durch die Straßen Londons. Deutschland ist Topfavorit in diesem Spiel, hat durch Tore von Möller und Ziege die Tschechen bereits im Gruppenspiel mit 2:0 bezwungen, war in jenem Spiel und im ganzen Turnierverlauf die bessere Mannschaft. Aber es ist ein Finale, und die Tschechen haben schon einiges bewiesen im Verlauf dieses Turniers. Sie operieren mit einer stabilen Hintermannschaft um den Lauterer Kadlec und verfügen über ein gutes Mittelfeld mit dem herausragenden Karel Poborsky, dem Schalker Jiri Nemec und dem Dortmunder Patrick Berger sowie dem aufstrebenden Top-Talent Pavel Nedved.
Die deutsche Elf ist geschwächt durch Krankheiten und Verletzungen, Jürgen Kohler hat sich schon früh verletzt aus dem Turnier verabschiedet, der Kapitän Klinsmann verpasste das Halbfinale, wo Freund und Helmer in der Verlängerung aufgeben mussten. Mario Basler und Fredi Bobic haben sich ebenfalls verletzt abgemeldet. Der entscheidende Elfmeter-Schütze des Halbfinales, Andreas Möller, ist nach seiner zweiten Gelben Karte ebenso wie Stefan Reuter gesperrt. Die Spekulationen in den deutschen Medien gehen so weit, dass bereits über die Qualitäten von Ersatztorwart Oliver Reck als Feldspieler diskutiert wird und Vogts mit einer Ausnahmegenehmigung der Uefa den Freiburger Jens Todt vor dem Finale nachnominiert.
Aber als die Nationalmannschaft einläuft, ist längst klar: Es hat gereicht, Klinsmann ist dabei, auch Eilts und Helmer. Markus Babbel hat Kohler schon im bisherigen Turnierverlauf gut vertreten, mit Häßler steht gleichwertiger Ersatz für die Position von Möller neben Mehmet Scholl bereit. Und es sind nicht die einzelnen Spieler, es ist die Geschlossenheit und der Teamgeist, der diese Mannschaft auszeichnet und sie in eine Reihe mit den großen Nationalteams der deutschen Turniergeschichte stellt.
Aus für den "eisernen Damm"
Deutschland beginnt druckvoll, aber der tschechische Coach Dusan Uhrin hat seine Hausaufgaben gemacht, und so wird ein Angriffsversuch nach dem anderen im Keim erstickt. Zur Halbzeit ist der Favorit leicht überlegen, aber viele Chancen sind dabei noch nicht herausgekommen.
Dann kommt nach der Pause auch noch eine Schlüsselfigur dieser Mannschaft nicht mehr auf den heiligen Rasen von Wembley zurück: Dieter Eilts, der Bremer, den die "Gazzetta dello Sport" in diesen Tagen anerkennend den "eisernen Damm" nennt, kann trotz aller Willensanstrengung nicht mehr weiterspielen, er wird durch seinen Vereinskollegen Marco Bode ersetzt.
Trotzdem kommt die Führung der Tschechen vollkommen überraschend, als Berger einen zweifelhaften Foulelfmeter gegen Köpke verwandelt. Vogts reagiert, bringt mit Bierhoff einen dritten Angreifer. Vier Minuten nach seiner Einwechslung zeigt Bierhoff seinen Wert, als er mit einem wuchtigen Kopfball nach einem Freistoß von Christian Ziege den Ausgleich besorgt.
Das Tor seines Lebens
Mit 1:1 geht es nach diesem mäßigen Finale in die Verlängerung. Die neue Regel des "Golden Goal" ist bisher noch nie zur Anwendung gekommen - bis zur 104. Minute dieses Finales. Klinsmann verarbeitet am rechten Rand des Strafraumes einen langen Ball und flankt auf Bierhoff. Der nimmt den Ball mit dem Rücken zum Tor an, hautnah bewacht von Rada. Er will sich nach links drehen, um mit seinem stärkeren rechten Fuß aufs Tor zu schießen, als er die Stimme von Marco Bode hört: "Andersrum, andersrum!" Bierhoff schaltet schnell, dreht sich und schießt verdeckt mit links, der konsternierte Torhüter Kouba lässt den haltbaren Ball passieren, er trudelt zum Pfosten, dann ins Tor - das Spiel ist aus, Deutschland ist Europameister. Bierhoff reißt sich das Trikot vom Leib und wird begraben in einer Spielertraube, ergreifende Bilder, Tränen von Klinsmann, der humpelnde Eilts, der letzte Titel für Deutschland in der Nacht von Wembley.
Die Finalelf von Wembley: Andreas Köpke, Thomas Strunz, Matthias Sammer, Markus Babbel, Thomas Helmer, Dieter Eilts (46. Marco Bode), Thomas Häßler, Christian Ziege, Mehmet Scholl (69. Oliver Bierhoff), Jürgen Klinsmann, Stefan Kuntz.