Die Zeit wird knapp. Die Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land beginnt in neun Monaten und derzeit hat das DFB-Team keinen Trainer, keine Spielidee und keine Unterstützung der Fans. Zuerst muss ein neuer Übungsleiter her. Aber die diskutierten Kandidaten für die Flick-Nachfolge sind entweder realitätsfern oder wenig erfolgsversprechend. Jürgen Klopp ist noch glücklich beim FC Liverpool unter Vertrag und Julian Nagelsmann wird das Himmelfahrtskommando Nationalmannschaft nicht übernehmen, um sich nicht den zweiten großen Trainerposten im Land mit Mitte 30 zu verbauen. Lothar Matthäus, Rudi Völler oder Jürgen Klinsmann würden hingegen eher für Memes im Internet als für Titel sorgen. Die Zeit der Experimente ist vorbei. Mit der Trainerwahl geht es jetzt um "Alles oder Nichts“. Oder wie ein renommierter holländischer Fußball-Lehrer sagen würde, um "Tod oder Gladiolen“.
Louis van Gaal gehört zum erweiterten Kandidatenkreis für das Amt des Bundestrainers. Richtig ernst zu nehmen, scheint diese Alternative allerdings niemand. Der 72-Jährige selbst signalisierte bereits trotz seines Ruhestandes Bereitschaft. "Normalerweise trainiere ich nicht mehr bei einem Verein, aber ein vielversprechendes Land hat immer noch eine Chance, mich zu überzeugen", sagte van Gaal der BILD. Jetzt liegt es also am DFB diese Überzeugungsarbeit zu leisten, sollte er überhaupt Interesse haben. Es wäre sicherlich eine DFB-untypische Lösung – aber mit Abstand die Beste.
Ansehnliche Turnier-Bilanz
Die Verpflichtung hätte keinen langfristigen Charakter, aber darum geht es mittlerweile auch nicht mehr. Das Ziel muss es sein, ein Debakel bei der Heim-EM zu verhindern. Zwei große Turniere hat van Gaal bereits als Nationaltrainer der Niederlande betreut – seine Bilanz kann sich sehen lassen. Bei der WM 2014 holte er mit der "Elftal" Bronze, weil er zuvor erst im Elfmeterschießen an Argentinien scheiterte. Seine Leistung in seiner zweiten Amtszeit als "Bondscoach“ ist sogar noch beeindruckender. Van Gaal übernahm im Juli 2021, verlor in der Folge kein Spiel und blieb auch bei der WM 2022 in Katar ungeschlagen. Allerdings schied man im Viertelfinale aus. Wieder im Elfmeterschießen. Wieder gegen Argentinien.
Van Gaal hat gezeigt, dass er Turnier kann. Vor allem bewies er, dass er keine Übermannschaft braucht, um erfolgreich zu sein. Vielmehr weiß er, wie man Taktik und Spielphilosophie auf das vorhandene Spielermaterial anpasst. Aus dem FC Bayern machte er 2009 ein ballbesitzstarkes Angriffsmonster. Sein 4-2-3-1 war der Grundstein für den späteren Titelreigen der Münchner unter Heynckes und Guardiola. Mit den Niederländern setzte er zuletzt auf ein für die Mannschaft ungewohntes System mit Dreierkette und Schienenspielern. Ein System, das dem deutschen Kader, in dem es keine wettbewerbsfähigen Außenverteidiger gibt, auch gut liegen müsste, wobei Flick dies auch schon erfolglos ausprobierte.
Das könnten Flicks Nachfolger sein

Schluss mit Graugans-Filmen
Dass der neue Bundestrainer auch Qualitäten neben dem Platz mitbringen sollte, wurde spätestens mit der Ausstrahlung der Amazon-Doku "All or Nothing" klar, die Hansi Flicks Bemühungen bei der WM in Katar begleitet. Flick wirkte dabei mehr wie ein überforderter Oberstufenlehrer als wie ein leidenschaftlicher Einpeitscher. Filme über Graugänse sollten die Mannschaft motivieren – wie das ankam, zeigte sich in den entgeisterten Blicken der Spieler. Unter Louis van Gaal wäre so etwas kaum vorstellbar. Der "Tulpengeneral" legt eine autoritärere Mannschaftsführung an den Tag. Kein Spieler könnte sich seines Stammplatzes sicher sein – ein Ende der Wohlfühloase Nationalmannschaft. Julian Brandt würde sich also zwei Mal überlegen, ob er, wie in der Doku zu sehen, zu spät zum Team-Meeting erscheint.
Zugegeben: Van Gaal ist in Deutschland dank Uli Hoeneß als "menschliche Katastrophe" bekannt. Wenn jener Hoeneß den Niederländer aber trotz seiner persönlichen Differenzen als "einen der besten Trainer der Welt" adelt, spricht das für dessen Qualität. Auch Karl-Heinz Rummenigge zählt van Gaal zu seinen drei besten Transfers beim FC Bayern. Rummenigge, der jetzt auch als Teil der DFB-Taskforce über den künftigen Bundestrainer entscheiden wird.
Van Gaal sagt, was er denkt
Eine Verpflichtung van Gaals brächte nicht zuletzt einen gewissen Entertainmentfaktor in den sonst so glattgebügelten DFB-Kosmos. Es wäre ein Schritt weg von den durchstrukturierten Marketing-Strategien des Verbandes. Van Gaal sagt, was er denkt und könnte so die Fans beseelen, die sich "echte Typen" in der Nationalmannschaft wünschen.
Der Niederländer weiß, wie man mit markigen Sprüchen Spieler und Fans hinter einem gemeinsamen Ziel versammelt. Man erinnere sich an seine legendäre Rede auf dem Münchner Rathausbalkon anlässlich der Meisterschaftsfeier der Bayern 2010. Eine Rede, an dessen Ende der ganze Münchner Marienplatz für ihn in die Schlacht gezogen wäre. Die Nationalmannschaft braucht einen Trainer, der genau dieses Feuer entfacht. Wenn der DFB vernünftig ist, wird Louis van Gaal vielleicht zum EM-Eröffnungsspiel am 14.Juni die Mannschaft mit Auszügen aus seiner damaligen Ansprache einstimmen: "Wir sind die Besten von Deutschland – und vielleicht – Europas".