Jens Lehmann Alpha-Tier im Dauerstress

Bei der Pressekonferenz im deutschen Lager tritt ein Nationaltorwart auf, der versucht, alle Zweifel an ihm zu zerstreuen. Doch entspannt und souverän wirkt Jens Lehmann dabei überhaupt nicht. Kein Wunder, wartet doch ein extrem wichtiges Spiel auf den Neu-Stuttgarter.

Der Mann, der auf die Bühne tritt, ist geladen, man merkt das schon, bevor er überhaupt die erste Frage beantwortet hat. Als nicht ganz klar ist, auf welchen der schwarzen Drehstühle er sich setzen soll zur Pressekonferenz im DFB-Medienzentrum in Tenero, zieht Jens Lehmann die Schultern hoch, breitet die Arme aus, zeigt seine Handflächen und zischt: "Soll ich jetzt stehen bleiben? Dann biete ich mehr Angriffsfläche."

Ein verbissene Nummer eins

Das ist der Anfang eines Auftritts, in der sich die deutsche Nummer eins hoch konzentriert, angespannt und zuweilen verbissen präsentiert. Jede Frage, die Jens Lehmann gestellt wird, nimmt er beinahe unbewegt auf. Keine flotten Sprüche, kein Flachs, kein Lächeln. Es ist ihm ernst. Es geht um ihn.

Der 38-Jährige ist so etwas wie der Mann der Stunde in der deutschen Nationalmannschaft, und das hat zwei Gründe. Es passierte bisher nicht allzu oft, dass ein Torwart-Oldie von 38 Jahren einen Vertrag mit einer deutschen Spitzenmannschaft wie dem VfB Stuttgart vereinbart. Ebenso selten oblag es einem Ersatzspieler, bei einem wichtigen Turnier das Tor der deutschen Nationalmannschaft zu hüten. Und natürlich ist Jens Lehmann das Interesse an seiner Person auch bewusst. Also sagt er Sätze, die Belege sein sollen. Belege für die Annahme, dass am Sonntag gegen Polen der richtige Mann im Tor steht.

Vom Ball hält er gar nichts

In der englischen Premier League, wo er bis zum Mai für Arsenal London spielte, sei "mehr Druck" zu spüren als in der Bundesliga. Wird es deshalb in Deutschland für ihn leichter? "Ich denke schon, weil das Tempo nicht so hoch ist."

Dann geht es um den Ball, mit dem bei der Europameisterschaft gespielt wird, den Lehmann aus England noch nicht kennt und von dem er gar nichts hält. "Man muss das so hinnehmen", sagt er. "Tore fallen, die mit normalen Bällen nicht gefallen wären." Sein Job, findet Lehmann, ist mit dem neuen Spielgerät deutlich komplizierter geworden. "Man muss sehr mutig sein, wenn man versuchen will, den Ball festzuhalten." Und, noch mal: "Jeden Ball festhalten, das geht eben heute nicht mehr."

"Erfahrung. Mit Sicherheit"

Jens Lehmann sagt das alles in ruhigen Worten, die Arme liegen vor ihm auf dem Tisch, ab und an gestikuliert er mit der Rechten, vorsichtig, moderat. Zu seiner Überzeugungsarbeit in eigener Sache gehört natürlich auch, auf jene Kompetenzen zu verweisen, die ihm beim Bundestrainer offenbar unverzichtbar machen. Was er dem VfB Stuttgart geben könne, wird er gefragt, und die Antwort lautet: "Erfahrung. Das mit Sicherheit." Außerdem Konstanz. "Wenn ich gespielt habe, war ich immer konstant."

Und dann fragt ihn jemand nach der so schlecht verlaufenen vergangenen Saison bei Arsenal, in der Jens Lehmann so oft wiederholte, der Trainer werde ihn spielen lassen und dann so oft auf der Bank saß. Lehmann aber kann nun Zahlen vorweisen: 20, 21 Spiele habe er insgesamt gemacht, das sei "nicht so wenig. Manchmal spielen Spieler nicht gut, weil sie 50 Spiele hinter sich haben". Wenn die Argumentation richtig wäre, müssten die Nationaltrainer aller Länder eigentlich vor großen Turnieren bei den Vereinen Zwangspausen für ihre Besten fordern.

Ein Hierarch, der sich oben halten will

Lehmann sagt noch, dass die Deutschen sich "gern Sorgen machen", als ein Journalist seine Sorgen über das derzeitige Leistungsvermögen des Abwehrdreiecks Lehmann-Mertesacker-Metzelder äußert. Und dann erinnert er an seine beiden Spiele bei Manchester United. Die Mannschaft hat die englische Meisterschaft und die Champions League gewonnen, sie ist derzeit die beste Europas. Kann außer Form oder ohne Spielpraxis sein, fragt Lehmann, wer gegen Manchester United zweimal gut spielt? Es ist an diesem Mittwoch vor Beginn der Europameisterschaft sein letzter Versuch, am Mikrofon seine Klasse klar zu machen.

Vor zwei Jahren lag es auch an seiner fehlerfreien Leistung, dass Deutschland ins Halbfinale der WM einzog. Der Westfale arbeitete sich in der Hierarchie der Nationalmannschaft weit nach oben. Nur das Wort des Kapitäns Michael Ballack hatte mehr Gewicht. Heute erlebt man einen Hierarchen, der sich mit aller Macht oben halten will. Der es allen zeigen will. Und der sich keine Blöße geben will. Ruhig steht Jens Lehmann auf, macht einen Schritt zurück, schiebt den Drehstuhl wieder an seinen Platz. Dann verlässt er, aufrecht und gemäßigten Schritts, die Bühne.

Seine Form einzuschätzen ist schwierig, vielleicht auch für Jens Lehmann selbst. Der da gerade abtritt, könnte Deutschland zum EM-Titel verhelfen. Er könnte aber auch, ein Patzer würde wohl reichen, gegen Polen das letzte Länderspiel seiner Karriere machen.

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