Im Süden Spaniens liegt das Dorf Albuñán. Dort leben 560 Menschen, und jeder zehnte ist verwandt mit Mario Gomez. Sein Großvater José Gomez wohnt hier und seine Oma Torcuata, seine Tante Lola, Cousins und Cousinen. Wenn Gomez seine Tore im Stil eines Toreros bejubelt, verstehen sie das hier als Gruß in ihre Heimat. Wenn Gomez für Deutschland bei der Europameisterschaft ein Tor schießt, dann fallen sie einander um den Hals. Und wenn Deutschland am Freitagabend im Viertelfinale gegen Griechenland antritt, werden sie sich in der Hacienda del Marquesado treffen, in einem Restaurant draußen an der Landstraße. Sie werden eine Leinwand aufbauen und die Trikots von Gómez daneben hängen, die er ihnen geschenkt hat. So ist es immer, wenn Mario Gomez spielt – egal ob für Deutschland, den FC Bayern oder früher für Stuttgart. So war es auch am vergangenen Sonntag.
Etwas verloren sitzen sie dort im riesigen Speisesaal, sieben Cousinen und Cousins, einer von ihnen im umgenähten Gomez-Trikot, daneben Tanten und Onkel, Freunde der Familie, bei Tapas und Bier. In der ersten Hälfte lässt Gomez einen Ball für Lukas Podolski abtropfen, den der zum 1:0 verwandelt, und schon diskutiert die Tante mit einem Großcousin. "Das hat er mit Absicht gemacht", sagt sie. "Irgendwie Zufall", hält der dagegen. Als der Schiedsrichter kurz vor der Pause Foul pfeift, weil Gomez dem dänischen Torwart auf die Hand getreten ist, ergreift Tante Lola wieder Partei. "Da war nichts", ruft sie, "ist der blind?" Das Siegtor für Deutschland nimmt sie später höflich zur Kenntnis, da sitzt ihr Mario allerdings schon auf der Bank. Kaum hat der berühmte Verwandte den Platz verlassen, ist im Dorf Albuñán alles wieder ein bisschen wie früher, ist Fußball ein bisschen egal.
Satellitenempfänger seit 2007
„Bis Mario so gut im Fußball wurde, haben wir uns vor allem für Stierkampf interessiert“, sagt der Großvater José, den hier alle nur Don José nennen. Erst als Gomez 2007 mit dem VfB Stuttgart deutscher Meister wurde und Fußballer des Jahres, kaufte sich Don José einen Satellitenempfänger. Samstags ist jetzt Sportschau-Tag. Tante Lola erkennt seitdem Müller, Schweinsteiger, Neuer, und Opa José wird von Spiel zu Spiel nervöser. "Nach dem Champions-League-Finale gegen Chelsea habe ich keine Minute geschlafen", erzählt er und drückt eine Faust in seine Bauchdecke, "hier drin hat es mir so weh getan".
Die Bewohner in Albuñán, die nicht mit seinem Enkel verwandt sind, feuern Spanien an, Mario Gomez entlockt ihnen kaum ein Schulterzucken. Mehr interessieren sie sich für andere deutsche Fußballer: Für Mesut Özil etwa, der bei Real Madrid spielt, "wegen seiner Tricks und der vielen Paar Schuhe". So erklärt es ein Bauarbeiter in der Dorfkneipe. Oder sie sind für Sami Khedira, "wegen seiner spektakulären Freundin". Sollte in zehn Tagen Deutschland im EM-Finale auf Spanien treffen, dann würden sie auf unterschiedlichen Seiten stehen: die Verwandten von Mario Gomez gegen die anderen Dorfbewohner.
"Wir haben Mario im Blut"
Schon seit Wochen wird dieser Konflikt verhandelt: in den Bars, auf der Straße, sogar in der Kirche. "Wenn euer Mario im Finale gegen Spanien spielt, könnt ihr doch nicht ernsthaft für die Deutschen sein", bohrt eine ältere Dame nach dem Gottesdienst am Kirchentor. "Natürlich können wir", erwidert Tante Lola. Ob man sich nicht einigen könne, fragt die Dame vorsichtig - den Titel für Spanien, und Mario als Pichichi, als Torschützenkönig? "Nichts da", sagt Tante Lola. "Wir können nur für Mario sein, wir haben Mario im Blut!"
Manchmal, vor einem wichtigen Spiel, zündet die Familie in der Kirche eine Kerze an, damit Mario Gomez weiter trifft. "Mi Mario, der macht das schon, ich bete für ihn", sagt seine Tante Lola. "Mi Mario ist der Beste", sagt Doña Torcuata, seine Großmutter. "Mi Mario, ich hab ihn lang nicht gesehen", sagt Don José, der Großvater. Schon seit 2007 war Gomez nicht mehr in Albuñán, doch viele erinnern sich noch daran, wie er früher als Kind im Sommer immer ein paar Tage in dem Dorf verbrachte und sofort nach seiner Ankunft auf den Bolzplatz rannte.
Auch der Bürgermeister ist Gómez-Fan
Zur Zeit schmückt man sich mal wieder gerne mit Gomez – er hat drei Treffer erzielt bei dieser EM, und beim FC Bayern hat er zwei überragende Jahre hinter sich. Wenn Gomez miserable Turniere erlebt wie die EM 2008 oder die WM 2010, schauen die meisten Dorfbewohner weg, dann stehen nur seine Verwandten noch hinter ihm. Als Gomez, der auch spanischer Staatsbürger ist, 18 Jahre alt war, hat ein Journalist ihn gefragt, warum er sich für die deutsche Mannschaft entschieden habe. "Wenn du als Stürmer Tore schießen willst, musst du für Spanien spielen. Wenn du Titel willst, für Deutschland", sagte er damals. Es ist andersherum gekommen: Gomez hat in 54 Länderspielen 25 Mal getroffen, die Titel aber holt Spanien.
In Albuñán haben sie ihm die Entscheidung nicht krumm genommen. "Immerhin, so erfährt bald die ganze Welt von unserem Dorf", sagt Antonio Hidalgo, der Bürgermeister, "weil plötzlich ein Mann mit andalusischen Wurzeln für Deutschland stürmt". Hidalgo ist der einzige in Albuñán, der nicht direkt mit Mario Gomez verwandt ist und sich trotzdem als Fan bekennt. Gómez verdient beim FC Bayern rund zehn Millionen Euro pro Jahr. "Klar wäre es schön, wenn er ein bisschen was bei uns investiert", sagt Hidalgo, "aber wir knüpfen unsere Liebe nicht an Bedingungen".
Torschützen gehören auf die Titelseite
Auf dem Bolzplatz am Dorfrand, wo Gomez früher kickte, wuchert jetzt hüfthoch Gestrüpp, seit Monaten hat hier niemand gespielt. Fußball wird nur bei Großereignissen und Gómez-Erfolgen diskutiert. Am lautesten jubelten sie zuletzt, als Gomez selbst sich das Jubeln verkniff: bei seinen zwei Toren gegen die Niederlande. Mehmet Scholl hatte nach dem Auftaktsieg in der ARD gemosert, Gomez habe sich so wenig bewegt, dass man Angst haben müsse, er würde sich wund liegen. "So gehen wir in Spanien nicht mit unseren Helden um. Wir feiern unsere Torschützen auf der Titelseite", sagt der Bauarbeiter in der Dorfkneipe, der mit Gomez nicht verwandt ist. "Tore sind die richtige Antwort", sagt Tante Lola. Immer wenn er trifft, schreibt ihm die Familie eine SMS.
Manchmal fährt auch eine Delegation von Verwandten zu ihm: Zwölf waren zum Halbfinale der Champions League in Madrid. Gomez übernimmt dann die Rechnung, besorgt die Eintrittskarten. Zu jedem Geburtstag ruft er an. "Brauchst du etwas, Opa José?", fragt er dann. "Nichts, mein Mario, wir haben alles, was wir brauchen", antwortet der. "Aber wann besuchst du uns endlich mal wieder?" "Ich weiß nicht, Opa José, ich muss wirklich viel arbeiten."
Vor Jahren hat Don José die Bürgermeisterin überzeugt, die Zufahrt zu seinem Haus nach Gomez zu benennen. Sie hätte lieber einen Platz oder die Hauptstraße nach ihm getauft, aber Don José beharrte auf seinem Wunsch. Das neue Schild darf der Großvater aber erst aufhängen, wenn sein Enkel Mario Gomez kommt, um es zu enthüllen.