Taktik-Debatte Pro und Contra Mehmet Scholl: Klassensprecher aller Ahnungslosen

Mehmet Scholl hat mit seiner Kritik an Bundestrainer Joachim Löw ein Fass aufgemacht. Fürsprecher findet er damit vor allem bei jenen "Fans", die nur bei großen Turnieren mal ein Fußballspiel sehen. Fachlich ist er dagegen fast untragbar.

Mit dem Trainer Joachim Löw wäre Belgien Europameister geworden. Beim allzu geheimen Geheimfavoriten soll es nach dem überraschenden Ausscheiden gegen Wales in der Kabine mächtig gescheppert haben, die Spieler sollen Trainer Mark Wilmots taktische Ahnungslosigkeit vorgeworfen haben. Wenn das wirklich das einzige Problem der hochgeschätzten Jungstars bei diesem Turnier war, hätte ihnen mit dem deutschen Trainerstab nichts passieren können.

Vielleicht würde Löw in Belgien auch die öffentliche Wertschätzung erhalten, die ihm in Fußballdeutschland seit jeher versagt bleibt. Grotesker Höhepunkt der Verweigerung: Mehmet Scholls aberwitzige Kritik an System und Aufstellung gegen Italien - wohlgemerkt nach dem deutschen Sieg im Viertelfinale.

Allmachtsphantasien aus dem alten Jahrtausend

Eine derartige Deutung ist wohl nur in Deutschland denkbar, wo immer noch fußballerische Allmachtsphantasien aus dem alten Jahrtausend vorherrschen. Motto: Am liebsten sieben Spiele mit der gleichen Aufstellung und der gleichen Taktik. Der Gegner? Hat sich gefälligst nach uns zu richten! Das muss der deutsche Anspruch sein!

So gesehen wird Mehmet Scholl mit den ätzenden Ausführungen seiner Rolle als populärster Experte im deutschen Fernsehen durchaus gerecht. Er steht damit stellvertretend für den Fan, der in der Fußballkneipe besoffen am Tresen steht und am lautesten pöbelt. Kein Wunder auch, dass Scholl die meisten Fürsprecher gerade unter jenen "Fans" findet, die nur bei EM oder WM Fußball gucken. Tenor: "Endlich sagt's mal einer!"

Wenn es denn so wäre. Denn es stimmt natürlich: Klartext ist schwer erwünscht, und Kritik ist immer dringend notwendig - wenn sie denn berechtigt ist. Allein: Fachlich hat Scholl sich am Wochenende fast untragbar gemacht. Zumindest hat er sich als hochbezahlter Experte bis auf die Knochen blamiert. Denn Löws Systemumstellung war in Wahrheit ein feiner taktischer Pinselstrich, der die vorhersehbaren Italiener ihrer Stärken beraubte.

Die besonders feine Ironie: Die Kritiker nörgeln, dass Löw sich wie bei der bitteren Pleite gegen die Italiener bei der EM 2012 schon wieder "nach dem Gegner gerichtet" habe. Dabei führt dieser Vorwurf ins Leere, ist er doch in Wahrheit ein Kompliment: Denn selbstverständlich hat Löw sich nach dem Gegner gerichtet, weil er nämlich aus 2012 gelernt hat - und deshalb war er den Italienern einen Schritt voraus. Er wusste, dass Italiens Coach Antonio Conte seine Mannen auf Toni Kroos als Gehirn der deutschen Offensive ansetzen würde und ergriff von Anfang an mit Aufstellung und System die nötigen Gegenmaßnahmen.

Konsequenz: Deutschland ließ zwar die offensive Durchschlagskraft teilweise vermissen, hatte die Partie aber über weite Strecken der 120 Minuten im Griff. Italien hätte aus dem Spiel heraus ganz sicher kein Tor erzielt. Ohne Boatengs Handspiel wäre das Spiel 1:0 ausgegangen - Deutschland hätte Italien mit dem italienischsten aller Ergebnisse besiegt. Ganz so glatt lief es zwar nicht, aber am Ende war das Glück zumindest mit den Klügeren. Keine Frage, in Belgien wären sie froh über so ein Trainerteam.

Mehmet Scholl: So einfach ist es heute nicht mehr

Am Tag nach dem Triumph gegen Italien zerpflückte Oliver Kahn als ZDF-Experte die naive Analyse seines ehemaligen Bayern-Mitspielers genüsslich: "Wir müssen mal weg kommen von dieser Einstellung, dass man ein ganzes Turnier oder eine ganze Saison durch immer mit der gleichen Taktik spielen müsse. Diese Zeiten sind schon ziemlich lange vorbei." Überhaupt konnte der in seiner Expertenrolle immer stärker werdende Kahn kaum verhehlen, dass er den ARD-Kollegen für ziemlich rückwärtsgewandt hält: "Die Spieler sind heute ganz anders ausgebildet. Manche Mannschaften können ihre Formationen sogar während des Spiels ändern. Diese Arroganz sollten wir nicht besitzen: 'Wir sind die Stärksten'. So einfach ist es im heutigen Fußball nicht."

Sachlich und fachlich hat Kahn damit alles gesagt. Für Scholl bleiben jetzt nur zwei Möglichkeiten: Entweder versucht er sich mal ein bisschen mehr mit der Materie Fußball zu befassen, so wie vor einigen Jahren als Trainer der Bayern-Amateure in der dritten bzw. vierten Liga. Oder er gibt weiter den polemischen Klassensprecher aller ahnungslosen EM-Gucker. Vielleicht fährt er mit der zweiten Variante sogar besser, schließlich sollte man sich immer auf seine Stärken konzentrieren. Und als Trainer kommt Scholl seit diesem Wochenende eigentlich nicht mehr in Frage.

Mehmet Scholl liegt genau richtig, findet Niels Kruse:

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