Nach der Partie zog er es vor, zu schweigen, zumindest als er durch die Mixed Zone schlurfte. Joshua Kimmich, 21, mochte die Aufregung um seine Person nicht unnötig befeuern. Es wurde ja auch so schon genug über ihn geredet, so kurz nach diesem 1:0 der deutschen Nationalmannschaft gegen Nordirland, das auch seine Handschrift trug, was nicht selbstverständlich war. Die Plätze schienen ja schon vergeben in der deutschen Viererkette nach den ersten beiden Partien. Für den tapferen Recken Benedikt Höwedes hatte sich Löw zunächst als rechten Aushilfsverteidiger entschieden. Eine sehr realpolitische Lösung, ohne die ganz große Fantasie. Höwedes verfügt unbestreitbar über Stärken in der Innenverteidigung, ein profunder Flügelläufer wird er in diesem Leben eher nicht mehr. Er stand deshalb für die Malaise in der deutschen Offensive, denn die Flügel, sie blieben mit ihm an der Linie meist unbesetzt.
Bis Kimmich kam.
Er ist ja selbst ein gelernter Mittelfeldspieler, doch seit Guardiola ihn in dieser Saison so ziemlich alles außer Torwart hat spielen lassen, trauen sie ihm auch beim DFB zu, dass er sich schnell in die neue Materie einarbeitet. "Er hat gespielt, was ich erwartet habe und ich habe viel erwartet", lobte sogleich Thomas Müller. Immer wieder stieß Kimmich über die Außenbahn in die Spitze vor, eine weitere Anspielstation bot sich dadurch vor allem für die Ballverteiler Özil und Kroos. Dass Löw im Zentrum ebenfalls noch einmal scharf in die Mannschaft schnitt, indem er den eher schnörkellosen Gomez für den kleinteiligen Götze ins Zentrum stellte, gab dem deutschen Spiel überdies eine andere Statik. Und mehr Wucht.
Deutschland in der Einzelkritik
In der ersten Halbzeit nahezu ohne Arbeitsnachweis. Parierte einen Fernschuss nach 25 Minuten souverän. Ansonsten immer anspielbar und der gewohnt sichere letzte Mann. Konnte sich nicht auszeichnen, weil nicht geprüft. Note 3.
Kam sehr stark in die Partie. Machte über rechts ordentlich Dampf, bereitete mehrere Torschüsse vor, leitete Angriffe ein. In der elften Minute einen kurzen Überheblichkeitsanfall, als er eine Großchance mit einem schiefgegangenen Heber vergab. Es sei ihm ob seiner starken Leistung verziehen. Auch nach der Pause der beste Mann auf dem Platz. Klasse Flanke für Götze. Vorne insgesamt immer gefährlich. Höwedes wird gute Argumente für eine Rückkehr in die Startelf finden müssen. Note 1.
Räumte von Beginn an alles ab, was in die deutsche Hälfte kam - auch wenn das nie viel war. Zusammen mit Boateng ein Bollwerk. Nach der Pause mit einer kleinen Unsicherheit, trotzdem ganz stark. Note 2.
Von den Nordiren kaum gefordert, war aber stets da, wenn es etwas zu verteidigen gab. Dazu mehrfach mit guten langen Bällen zum Aufbau. Auch nach der Pause sehr sicher. Musste nach 75 Minuten leicht angeschlagen raus. Note 2.
Nach vorne immer gefährlich. Mit viel Selbstbewusstsein im Zweikampf. Hatte sichtlich Spaß am Offensivspiel. Baute in Durchgang zwei zunehmend ab, dennoch ein solides Spiel von ihm. Note 3.
In der ersten Hälfte ungewohnt unsicher. Vertändelte zweifach den Ball unnötig im Mittelfeld. Vergab eine Torchance nach Ecke. Nach der Pause leicht verbessert. Ein guter Fernschuss nach 55 Minuten. Wich 20 Minuten vor Schluss Schweinsteiger. Note 4.
In der ersten Halbzeit weitestgehend unsichtbar. Nach der Pause mehr ins Spiel eingebunden und wieder gewohnt passsicher. Mit einigen guten Zuspielen im letzten Drittel. Note 3.
In Durchgang eins sehr bemüht, sein erstes Tor zu erzielen. Traf zweifach Aluminium. Deutlich verbessert, aber im Abschluss unglücklich. Bereitete dafür das Tor von Gomez stark vor. Nach der Pause wieder unauffälliger. Note 3.
Sein erstes starkes Spiel bei dieser EM. Brachte in Durchgang eins 35 von 36 Pässen zum Mann - und dabei waren viele Risikozuspiele. Stets gefährlich, aber mit Pech im Abschluss. Nach der Pause, wie die gesamte deutsche Mannschaft, etwas schwächer. Trotzdem noch mit gefährlichen Szenen und insgesamt stark. Note 2.
War hinter den Spitzen besser im Spiel. In Durchgang eins ein, zwei Mal gefährlich im Strafraum. Dafür aber zwei hanebüchene Ballverlusten im Mittelfeld. Gegen Ende der ersten Hälfte stabiler. Kam mit viel Dampf aus der Kabine. Vergab aber direkt zwei Riesenchancen frei vorm Tor. Wurde in der 55. Minute ausgewechselt. Note: 4.
Erstes Spiel von Anfang an, erstes Tor bei dieser EM. Selbst eingeleitet mit schönem Doppelpass mit Müller. Insgesamt sehr gut eingebunden ins Team. Machte viel Wirbel vorne, hatte sichtlich Lust. Gute Kopfballchance kurz vor Schluss, wirkte aber zunehmend platter. Dennoch die Kernaufgabe erfüllt, daher: Note 2.
Kam in Minute 55 für Götze. Ward danach nicht mehr gesehen. Note 5.
Kam in der 68. Minute für Khedira. Konzentrierte sich dieses Mal auf seine Kernkompetzen: das Aufbauspiel. Sicherer Rückhalt. Note 3.
Kam für die letzte Viertelstunde für einen leicht angeschlagenen Boateng. Wurde nicht wirklich geprüft, konnte sich nicht auszeichnen. Note 3.
Löws Wechsel gehen auf
Durfte man nach dem 0:0 gegen Polen noch glauben, dass diese Nationalelf bis zur Auslöschung der Zivilisation nie mehr auf ein fremdes Tor würde schießen können, wenn man die Diskussion rund um diese Elf verfolgte, so hatten Löws Wechsel den gewünschten Effekt. Was allerdings auch an einer erheblich größeren Bereitschaft lag, in der Spitze durch Sprints für Konfusion zu sorgen. Nachdem Müller in den ersten beiden Spielen nicht ein Torschuss gelungen war, durfte er diesmal aus allen Richtungen aus der Nahdistanz sein Glück versuchen, was für sich betrachtet schon einmal eine gute Nachricht war.
Wenn das Ergebnis nur ein wenig erbaulicher gewesen wäre.
Nur Gomez traf, von Müller immerhin in Szene gesetzt. Müller selbst schien die Kunst des Fehlschusses an diesem Abend perfektionieren zu wollen. "Ich bin zu mehr Torchancen gekommen als in den letzten acht Spielen zusammen", erklärte Müller selbstkritisch. Ein "bisschen Unvermögen" sei schon dabei gewesen, aber natürlich mochte auch er sich viel lieber mit den ermutigenden Erkenntnissen der Vorrunden-Trilogie aufhalten. "Die Basis stimmt, um auch in den großen Spielen zu bestehen."
Nordirland technisch hoffnungslos unterlegen
Tatsächlich bewiesen die Deutschen, dass sie zumindest diese tapferen, aber technisch hoffnungslos unterlegenen Nordiren standesgemäß zu sezieren wussten. Dass sie nach zwei Spielen der Dürre vor des Gegners Tor diesmal allzu verschwenderisch vorgingen, gibt zumindest leichten Anlass zur Beunruhigung. Immerhin, Löw dürfte in der Architektur seiner Elf einen großen Schritt weiter gekommen sein, zumindest was die Abwehr anbelangt. Die Viererkette darf als vollendet betrachtet werden, was eine schlechte Nachricht für Höwedes bedeutet. In der Offensive erscheinen Kroos, Khedira und davor Özil in der Zentrale ebenso gesetzt wie Müller.
Bleiben Gomez und Götze, der diesmal für Draxler auf die linke Seite ins Mittelfeld rückte. Zumindest Gomez darf sich als Gewinner fühlen, schon seines Treffers wegen. "Wir brauchten da einen Spieler", lobte Löw. Er klang nicht, als habe er Gomez nur temporär berufen. Enger wird es für Götze, der sich allerdings höchster Löwscher Wertschätzung erfreut. Sollte Löw seinen Kapitän Bastian Schweinsteiger in der K.o-Runde noch in die Elf integrieren wollen, um die notorische Kontergefahr zu bannen, könnte es eng werden für Götze. Auch Özil weiß seine Positon zu spielen, sollte Kroos nach vorn auf die Özil-Position rücken.
Deutschland steht also im Achtelfinale. Als Tabellen-Erster. Und doch ist es ein eigenartiges Turnier, das diese deutsche Nationalmannschaft da spielt. Auch nach drei Spielen lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, wie gut diese Elf wirklich ist. Sie müht sich, das schon. Doch eine Partie ohne gravierende Mängel durchzuspielen ist ihr bislang nicht gelungen. Man wird bis auf weiteres auf das Urteil der Beteiligten vertrauen müssen, wenn man zu dieser Mannschaft hält. Die klingen weiter, als sei für jede Form von Zweifel kein Anlass. "Jetzt beginnt das Turnier erst, mit dieser Mannschaft ist alles möglich", verkündete Mario Gomez, bevor er frohgemut dem Ausgang entgegenstrebte.
Es wird ernst.
Endlich.