EM 2021 Alle lieben Gareth. Oder: Wie Englands Trainer Southgate mehr als sein Land verzaubert

Gareth Southgate
Unter seinen Leuten im Mittelpunkt, sonst eher bescheiden: Gentleman-Trainer Gareth Southgate
© Paul Ellis/Pool / AFP
Vor 25 Jahren verschoss er im Halbfinale gegen Deutschland den entscheidenden Elfmeter. Nun führt Gareth Southgate eine junge und spannende Mannschaft ins Endspiel gegen Italien. Und begeistert mit seiner emphatischen und reflektierten Art.

Da sind diese Dinge zwischen Himmel und Erde, die man nicht erklären, sehr wohl aber spüren kann. Exakt so ein Moment war das am späten Abend des 26. Juni 1996 im Londoner Wembley-Stadion, als ein episches Fußballspiel wogte zwischen England und dem ewigen Rivalen Deutschland mit einer Verlängerung, nein: einer wahnwitzigen Verlängerung, hin und her und her und hin, und man hoffte als Zeuge des Ganzen, dass bitte keine Mannschaft noch ein Tor erzielen würde, weil dies – es war die Zeit des unseligen Golden Goals – das abrupte Ende dieses atemberaubenden Spektakels bedeutet hätte. Es fiel glücklicherweise kein Tor mehr, also ging es ins Elfmeterschießen, alle verwandelten. Und dann machte sich Gareth Southgate auf den langen Weg von der Mittellinie zum Punkt, und man fühlte bis auf die Tribüne hinauf bei jedem seiner Schritte den Druck von 80.000 im Stadion und 30 Millionen vor den Fernsehern. Man spürte, man ahnte, man wusste, und so geschah es. Er verschoss. Der Rest ist Geschichte. Die Deutschen wurden Tage später Europameister durch, natürlich, ein Golden Goal.

Ein Vierteljahrhundert liegt dieser sagenhafte Abend zurück. An diesem Sonntag nun führt Gareth Southgate, 50, als Trainer eine junge, hochbegabte englische Mannschaft ins Finale der Europameisterschaft gegen die mächtigen Italiener. Und völlig unabhängig vom Ausgang kann man jetzt schon sagen, dass die tragische Figur von damals der große Gewinner von heute ist. Ein Bann ist gebrochen. Auf eines war bei großen Turnieren schließlich stets Verlass: England fliegt raus, entweder schon in der Vorrunde, spätestens im Halbfinale, dort bevorzugt im Elfmeterschießen und gerne gegen die Deutschen. Weshalb das amerikanische "Time"-Magazin vor Jahren in einer Titelgeschichte Englands Team zur miesesten Fußballmannschaft des Planeten erhob. Auf der Insel regte sich darüber im Übrigen niemand auf. Die Menschen teilten, im Gegenteil, das Verdikt aus den früheren Kolonien. Englisches Versagen bei großen Turnieren war so etwas wie ein Naturgesetz. Ebbe und Flut. Tag und Nacht. So was in der Art.

Er orientierte sich an Jogis Löws Deutschen

Dann kam Southgate, ein Nobody, zuvor Trainer beim blässlichen FC Middlesbrough und der englischen Junioren. Er galt als Notlösung. Und gilt nun als einer der besten Trainer der Welt. England kann jetzt Elfmeter, es kann sogar Finale. Behutsam und mit enormem Fleiß formte er ein Winner-Team, orientierte sich dabei ausgerechnet an Jogi Löws Deutschen, studierte deren Trainingseinheiten, plauderte freundlich mit deutschen Fans bei öffentlichen Einheiten und reiste der Mannschaft beim Confed-Cup 2017 sogar hinterher. Von Deutschland lernen, hieß siegen lernen. Das war einmal. Nur ein Jahr darauf schieden die Teutonen bei der Weltmeisterschaft in Russland schmählich in der Vorrunde aus, wohingegen die jungen Engländer ins Halbfinale stürmten und die Nation in Taumel versetzten. Die Kräfteverhältnisse haben sich gedreht. Die Deutschen schauen nunmehr neidvoll auf die englische Mannschaft, mit ihrem empathischen Coach. Dessen Team spielt ganz gewiss nicht mitreißend, aber eben maximal erfolgreich. Das ist sein sehr pragmatischer Angang. Erfolg und unbedingte Disziplin vor Schönheit. Mögliche Krönung: Wembley am Sonntag.

Und nun lieben alle Gareth, den Gentleman-Trainer mit dem getrimmten Bart und den perfekt sitzenden Anzügen. Die Band “Atomic Kitten“ hat ihren alten Hit “Whole Again“ aus den nuller Jahren flott mal umgedichtet,  “Southgate You're The One - Football's Coming Home Again“. Die Komödiantin Madeleine Brettingham twitterte, Southgate sei der “ultimative Middle-Age-Crush“, einer, “von dem ich mich jederzeit zur Darmspiegelung fahren lassen und danach mit ihm in würdevollem Schweigen Kaffee trinken würde“. Längst huldigen ihn sogar die englischen Boulevardblätter, die nach eher mauen Vorrundenspielen noch eifrig keiften. Die seriösen Zeitungen versteigen sich unterdessen zu regelrechten Hymnen. Southgate, schrieb ein Kolumnist der “Times“, sei ein Mensch, dem er zutraue, sein Leben zu retten, falls er sich beim Essen verschlucke. “Er würde 'Heimlich-Manöver' rufen und zur Tat schreiten.“

Der Trainer, sekundierte eine Kollegin im selben Blatt, sei der Typ Mann, der genau wisse, was Frauen brauchen. Und zwar qua seiner emotionalen Intelligenz, die ihn wohltuend unterscheide von der ruppigen politischen Klasse des Landes. Angeführt von einem Premier, der momentan ein gigantisches Menschen-Experiment durchführen lässt mit vollen Stadien und Lockerungen und gegen alle wissenschaftliche Vernunft.

Der exakte Gegenentwurf zum Premierminister

Beim Halbfinale saß dieser Boris Johnson, ganz Volkstribun, im England-Trikot im Stadion und wachte über die Aerosol-Festspiele beim 2:1 gegen Dänemark. Jener Johnson, der sich geweigert hatte, die Buh-Rufe zu verurteilen, die die englischen Spieler fürs Niederknien vor Anpfiff ertragen müssen, ihre symbolisch-solidarische Geste gegen Rassismus. Unterschiedlicher jedenfalls können die beiden zurzeit berühmtesten Engländer kaum sein: Hier der Lautsprecher Johnson, der sich um politische Details nie scherte und die Wahrheit nach Gusto wie ein Gummiband zu dehnen pflegt. Dort der einfühlsame Southgate, der nichts dem Zufall überlässt und dem selbst im Überschwang nie ein peinliches Wort entfährt. Er ist der exakte Gegenentwurf zu Boris Johnson, sein Antidot. Vom Brexit hält Southgate im Übrigen auch nichts.

Vor dem Turnier wandte sich der in Watford geborene Familienvater in einem Essay an seine Landsleute. Unter dem Titel “Dear England“ stellte er erst mal klar, dass er in der Hackordnung daheim hinter Kindern und Hunden maximal auf Platz drei rangiere. Sodann wurde es ernster und er beschrieb seine Vision eines modernen, progressiven und diversen Landes, für das seine heterogene Mannschaft sinnbildlich steht. Er lobte das soziale Engagement seiner Spieler, ihren Einsatz für Gleichberechtigung und Inklusion. Es sei ihre Pflicht, ihre Stimme zu nutzen, um wichtige gesellschaftliche Debatten nach vorne zu treiben. Das war ein bewegendes, kluges Stück. Ein Leitartikler des “Independent“ schrieb, dass dieser an Werte glaubende und sie lebende Gareth Southgate einen besseren Premier abgeben würde als der amtierende Resident in der Downing Street. Und es steht außer Zweifel, dass der Trainer seine Worte auch als Mahnung an jene verstanden wissen wollte, die den sportlichen Erfolg liebend gern für nationalistische Zwecke kapern würden. Johnson ließ sich nach dem Achtelfinalsieg über Deutschland vor seinem Wohnsitz auf einer überdimensionalen englischen Fahne ablichten. Die Tatsache verdrängend, dass er nicht nur englischer, sondern britischer Premierminister ist. Vor allem in Schottland und Wales kam die plumpe Aktion nicht sonderlich gut an.

Mit solchen Anbiedereien punktet er vielleicht beim englischen Volk, nicht aber bei den Protagonisten. Der Stürmer Marcus Rashford von Manchester United legte sich gleich zweimal mit Boris an, und er gewann zweimal krachend ohne Verlängerung. Es ging um Schulessen für Kinder aus sozialschwachen Familien während der Pandemie, das die Regierung streichen wollte. Der selbst aus armen Verhältnissen stammende Rashford ging auf die Barrikaden, schrieb einen offenen Brief, gründete eine Hilfsorganisation und wurde schließlich sogar von der Queen geehrt.

Auch Raheem Sterling, der vielleicht beste Spieler des Turniers, nimmt immer wieder Stellung zum Rassismus, oft genug selbst angegriffen und geschmäht auch während des Turniers. Man könnte es auch so sehen: Es ist die Generation “woke“, die da für England auf dem Feld steht, vor Spielbeginn auf die Knie geht und damit auch ein Zeichen setzt gegen den Krieg der Kulturen, den die konservative Regierung ausgerufen hat. Dafür lassen sie sich von Teilen des eigenen Anhangs und weiten Teilen des Establishments gerne ausbuhen. Niemand taugt als Trainer dieser Gruppe besser als der smarte Southgate, der schon als Profi vorbildlich auftrat.

Den Fehlschuss mit britischem Humor abgearbeitet

Der ehemalige deutsche Nationalspieler und heutige Sportvorstand des VfB Stuttgart, Thomas Hitzlsperger, erzählte neulich von seiner gemeinsamen Zeit mit Southgate bei Aston Villa. Dass der fast wie ein väterlicher Freund aufgetreten sei und immer wieder Hilfe anbot.

Das war im Übrigen ein paar Jahre nach dem fatalen Elfmeter im Halbfinale 1996. Den hat Southgate mit typisch britischem Humor zügig abgearbeitet. In einem Spot für eine Pizza-Kette  saß er nur wenige Monate nach dem Fehlschuss – eine Papiertüte schamvoll über den Kopf gestülpt - am Tisch mit Chris Waddle und Stuart Pearce, denen dasselbe Missgeschick sechs Jahre zuvor im WM-Halbfinale 1990 gegen Deutschland unterlaufen war. Drei Elfer-Stümper in einer Pizzeria. Irgendwann lüftet Southgate die Tüte, beißt in ein Stück Pizza, steht auf – und läuft vor einen Pfeiler. Worauf Pearce sagt: “Und diesmal trifft er den Pfosten.“

Lang ist’s her, vergessen natürlich nie. Deutschland war ewig Englands Nemesis. Das ist vorbei. Gegen Italien könnten die jungen, wilden Engländer also ihren zweiten Titel überhaupt gewinnen. Ein einsames Sternchen ziert deren Trikot, WM 1966. 55 Jahre Schmerz, Leiden und Warten, ehe der Fußball tatsächlich nach Hause kommen könnte. Gary Lineker, die Stürmer-Ikone von einst, wünscht sich fürs Finale den doppelten Kniefall von Wembley. Erst den gegen Rassismus. Und nach dem Spiel noch einen vor der Queen.

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